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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0008
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Albrecht Dihle

zu ziehen, die wirklich irgendwo geschrieben stehen, die, wie man sagt
belegt sind, obwohl doch eigentlich das am interessantesten sein kann
was sonst noch niemandem einfiel. Im Fall der Sukzession mehrerei
dramatischer Bearbeitungen desselben Stoffes aber ist der Philologe in
der glücklichen Situation, die Vorstellungskraft der beteiligten Dichtei
für sich arbeiten zu lassen, die ihm die nötigen Varianten zum besseren
Verständnis der Details des einen, zu erklärenden Stückes an die Hand
gibt und ihn von dem Zwang befreit, die Varianten mit der eigenen
Phantasie zu schaffen. Dabei ist es nicht einmal nötig, daß die Glieder
dieser Reihe von Bearbeitungen untereinander in allen Fällen im Ver-
hältnis von Vorbild und bewußt differenzierender Nachahmung stehen.
Die hier kurz skizzierte, von Friedrich mit großer Virtuosität ge-
handhabte Interpretationsweise, die sich der literarischen Neugestal-
tung desselben Stoffes als eines Kommentares bedient, richtet sich im
Fall dramatischer Literatur verständlicherweise vornehmlich auf ein
rechtes Verständnis des Geflechtes der Bühnenhandlung. Wo in zwei
oder mehreren Medea-Dramen die Knoten der Handlung anders ge-
schürzt sind, wird man die charakteristischen Intentionen und Quali-
täten mehrerer Bearbeitungen desselben Stoffes in wechselseitigem Ver-
gleich am ehesten erfassen können. Indessen bedeutet eine Änderung
im Schaltwerk der Dramenhandlung meist auch gleichzeitig einen Wan-
del in der Motivation des Handelns aus den Gefühlen und Absichten der
am Drama beteiligten Personen. Ja, man darf sogar vermuten, daß Ab-
weichungen im Ablauf des Geschehens gegenüber einer älteren Dramen-
version nicht selten gerade darauf zurückzuführen sind, daß der Dich-
ter des späteren Stückes von vom herein seine eigene und neue Auffas-
sung vom Wesen und Charakter der beteiligten Personen hatte. Man
denke nur an die erhaltenen Elektra-Dramen der drei großen attischen
Tragiker. Die Unterschiede im Ablauf ihrer jeweiligen Bühnenhand-
lungen sind zweifellos primär motiviert durch die jeweils andere Auf-
fassung, die jeder der drei Dichter vom Wesen der Heldin und ihrer Mit-
und Gegenspieler hatte. Daß dieser Sachverhalt auch für die vielen suk-
zessiven Bühnenfassungen des Medea-Stoffes gilt, hat alle Wahrschein-
lichkeit für sich. Wo der unbestreitbare und unumgängliche Höhepunkt
der vorgegebenen Fabel in der Monstrosität zu sehen ist, daß eine Mutter
die eigenen Kinder zur Bestrafung des Gatten und Vaters vorsätzlich
umbringt, liegt die Frage nach der inneren Beschaffenheit einer solchen
Frau auch für den Theaterdichter gewiß noch näher als alles gleichfalls
vorauszusetzende Bestreben, in kunstvollem Aufbau der Bühnenhand-
lung die Vorlage zu übertreffen. Überdies wirken große Gestalten der
 
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