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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0010
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Albrecht Dihle

kung zu schaffen, hat sie die Töchter des Pelias zur Tötung ihres alten
Vaters angestiftet. Um sein Leben zu teilen, hat sie alles hinter sich ge-
lassen und lebt gehaßt und gefürchtet in einer ihr zutiefst fremden Um-
welt. Wie ihr Tun über- oder außermenschlich gewesen ist, so muß es
auch die Rache sein, die sie für die Untreue des Menschen nimmt, an
den sie sich trotz ihrer übermenschlichen Natur auf Gedeih und Verderb
gebunden hat. Die Entrückung Medeas nach der Tat macht dann voll-
ends deutlich, daß sie in Wahrheit ein Dämon ist, mit dem im Guten oder
im Bösen Verbindung zu haben für jeden Menschen sich als zugleich
auszeichnend und gefährlich erweist.
Diese Deutung der Medea-Gestalt hat bei Euripides viele Ansatz-
punkte, etwa den berühmten, schon von Aristoteles6 als Element dra-
matischer Erfindung getadelten Drachenwagen, auf dem sich Medea
dem weiteren Umgang mit Jason und den Korinthern am Schluß des
Stückes entzieht, oder den wiederholten Elinweis auf ihre Abstammung
vom Sonnengott. Sie beherrscht Friedrich Klingers Medea-Tragödie
v. J. 1786, der den Mythos sogar dahin ausspinnt, daß er die Heroine
im Anschluß an die Katastrophe von Korinth das Leben einer Art
Naturgottheit in der starrenden Einsamkeit des Kaukasus führen läßt.
In saekularisierter Form findet sich diese Deutung bei Jean Anouilh,
dessen eMedee’ 1946 erschien. Er exemplifiziert die Unwiederholbar-
keit und Einmaligkeit jeglicher menschlichen Existenz an der Unver-
gleichbarkeit Medeas und ihres Schicksals, was der Mythos nur in der
Form zum Ausdruck bringen konnte, daß er Medea aus dem Kreis der
Menschen ausschloß.
2) Viele Medea-Dramen der europäischen Literatur erklären die
Schreckenstat mit dem Umstand, daß Medea eine Barbarin ist. Sie hat
um des geliebten Mannes willen alle Brücken zu Familie und Heimat
abgebrochen und ist ihm in ein Land gefolgt, in dem sie immer die
Fremde und Abgewiesene bleiben wird. Der Sinn ihres Lebens er-
schöpft sich im Zusammensein mit Mann und Kindern. Mit dem Auf-
tauchen der Nebenbuhlerin und der Untreue Jasons steht sie nun im
Begriff, Mann und Kinder an die ihr feindliche Umwelt und ihre Gesit-
tung zu verlieren. Mit dem Mord an den Kindern reagiert sie also nur
auf eine Situation, in der sie die Grundlage ihrer Existenz schon verloren
hat und aus der sich kein Ausweg zeigt.
Grillparzer vor allem hat in der Argonauten-Trilogie v. J. 1822
Medeas tragische Situation aus dieser Perspektive gezeigt. Bei dem Eng-
länder Glover, dessen Drama 1761 aufgeführt wurde, wird Medea zur
bonne sauvage in einer ebenso verderbten wie zivilisierten Umwelt.
 
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