Euripides’ Medea
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betrogene Gattin, die ihrem Mann zuvor alles aufgeopfert hat, und ihrer
Kinder beraubte Mutter. Das Ungeheuerliche ihrer aus Leidenschaft er-
wachsenden Tat wird also durch eine ebensolche Ungeheuerlichkeit des
ihr zugefügten Leides begründet, an dessen Aufhäufung die Dichter mit
Fleiß gearbeitet haben. Daß dann unter solchen Umständen Medeas
Leidenschaft auf der Bühne die Form des Wahnsinns annimmt, gegen
den der Verstand der Betroffenen machtlos ist, liegt ganz auf der Linie
einer solchen Deutung13.
Diese Deutung Medeas und ihrer Tat aber beherrscht nun nicht nur
die Tradition des europäischen Theaters. Sie liefert auch, jedenfalls in
der Antike, den wichtigsten Grund, den Fall Medeas in außer dramati-
scher Literatur zu erörtern. Ausdrücklich am Exempel der so verstan-
denen Medea des Euripides und in polemischer Auseinandersetzung mit
der daran deutlich werdenden Psychologie eines Dualismus der zwei
selbständigen Faktoren Vernunft und Leidenschaft entwickelte der
Stoiker Chrysipp im 3. Jh. v.C. die orthodoxe Auffassung seiner Schule
vom Wesen des Affektes14. Er hielt ihn nicht für das Resultat der Über-
wältigung der Vernunft durch Leidenschaft oder andere, irrationale
Triebkräfte der Seele. Vielmehr sah er im Affekt die notwendige Folge
eines intellektuellen Fehlurteils, bei dessen Zustandekommen selbstän-
dige Triebkräfte irrationaler Natur gar nicht anzusetzen sind. Das Leit-
organ der menschlichen Seele hat nach orthodox-stoischer Lehre aus-
schließlich rationale Kräfte, mit denen der Mensch freilich auch verkehrt
urteilen und damit Impulse zur Fehlhandlung auslösen kann. Chrysipps
Bezugnahme auf das euripideische Stück eröffnet eine lange Diskussion,
die uns in Fragmenten des Stoikers Poseidonios, bei Cicero und bei den
kaiserzeitlichen Platonikem Plutarch, Albinos und Galen greifbar wird.
Zumeist geht es darum, gegen Chrysipp am Beispiel der Medea zu zeigen,
daß bei rechtem Vernunftgebrauch die irrationalen Triebe und Leiden-
schaften, die als selbständige Faktoren des Seelenlebens notwendig sind,
in der ihnen zukommenden dienenden Rolle gehalten werden. Erst die
der Vernunftkontrolle entglittene Leidenschaft führt als einzige und un-
beeinflußte Triebkraft in die Fehlhandlung. Das Problem, um das es in
diesem Streit um den strengen Intellektualismus der orthodoxen Stoa
ging, war schon in den Jahren, in denen Euripides die 'Medea’ auf die
Bühne brachte, theoretisch erfaßt und formuliert worden. Sokrates’ be-
rühmtes Paradox, daß niemand wissentlich fehle, wendet sich nach Pla-
tons Zeugnis ausdrücklich gegen die damals wie heute ganz unreflektiert
gehegte Meinung, ein Übermaß an Leidenschaft könne auch den zur
Fehlhandlung verleiten, der den rechten Weg zum rechten Ziel genau
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betrogene Gattin, die ihrem Mann zuvor alles aufgeopfert hat, und ihrer
Kinder beraubte Mutter. Das Ungeheuerliche ihrer aus Leidenschaft er-
wachsenden Tat wird also durch eine ebensolche Ungeheuerlichkeit des
ihr zugefügten Leides begründet, an dessen Aufhäufung die Dichter mit
Fleiß gearbeitet haben. Daß dann unter solchen Umständen Medeas
Leidenschaft auf der Bühne die Form des Wahnsinns annimmt, gegen
den der Verstand der Betroffenen machtlos ist, liegt ganz auf der Linie
einer solchen Deutung13.
Diese Deutung Medeas und ihrer Tat aber beherrscht nun nicht nur
die Tradition des europäischen Theaters. Sie liefert auch, jedenfalls in
der Antike, den wichtigsten Grund, den Fall Medeas in außer dramati-
scher Literatur zu erörtern. Ausdrücklich am Exempel der so verstan-
denen Medea des Euripides und in polemischer Auseinandersetzung mit
der daran deutlich werdenden Psychologie eines Dualismus der zwei
selbständigen Faktoren Vernunft und Leidenschaft entwickelte der
Stoiker Chrysipp im 3. Jh. v.C. die orthodoxe Auffassung seiner Schule
vom Wesen des Affektes14. Er hielt ihn nicht für das Resultat der Über-
wältigung der Vernunft durch Leidenschaft oder andere, irrationale
Triebkräfte der Seele. Vielmehr sah er im Affekt die notwendige Folge
eines intellektuellen Fehlurteils, bei dessen Zustandekommen selbstän-
dige Triebkräfte irrationaler Natur gar nicht anzusetzen sind. Das Leit-
organ der menschlichen Seele hat nach orthodox-stoischer Lehre aus-
schließlich rationale Kräfte, mit denen der Mensch freilich auch verkehrt
urteilen und damit Impulse zur Fehlhandlung auslösen kann. Chrysipps
Bezugnahme auf das euripideische Stück eröffnet eine lange Diskussion,
die uns in Fragmenten des Stoikers Poseidonios, bei Cicero und bei den
kaiserzeitlichen Platonikem Plutarch, Albinos und Galen greifbar wird.
Zumeist geht es darum, gegen Chrysipp am Beispiel der Medea zu zeigen,
daß bei rechtem Vernunftgebrauch die irrationalen Triebe und Leiden-
schaften, die als selbständige Faktoren des Seelenlebens notwendig sind,
in der ihnen zukommenden dienenden Rolle gehalten werden. Erst die
der Vernunftkontrolle entglittene Leidenschaft führt als einzige und un-
beeinflußte Triebkraft in die Fehlhandlung. Das Problem, um das es in
diesem Streit um den strengen Intellektualismus der orthodoxen Stoa
ging, war schon in den Jahren, in denen Euripides die 'Medea’ auf die
Bühne brachte, theoretisch erfaßt und formuliert worden. Sokrates’ be-
rühmtes Paradox, daß niemand wissentlich fehle, wendet sich nach Pla-
tons Zeugnis ausdrücklich gegen die damals wie heute ganz unreflektiert
gehegte Meinung, ein Übermaß an Leidenschaft könne auch den zur
Fehlhandlung verleiten, der den rechten Weg zum rechten Ziel genau