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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0018
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Albrecht Dihle

allem am Anfang des Stückes, als sie die Kunde vom Treuebruch ihres
Mannes gerade erhalten hat, porträtiert sie der Dichter im Zustand tief-
ster Erregung, in dem ihr Eifersucht, Rachesucht und Haß in schneller
Folge plan- und ziellose Impulse eingeben28. Daß Medeas Emotionen -
und d. h. die Emotionen einer großen und starken Natur - zutiefst auf-
gewühlt sind, daran hat Euripides keinen Zweifel gelassen. Dann aber
folgen drei große Gespräche mit Kreon, dem König des Landes, mit
Jason und mit dem zufällig anwesenden Athener Aigeus. In ihnen gelingt
es Medea, umfassende Einsicht in die eigene Lage und in die ihr verblei-
benden Möglichkeiten zu gewinnen. Aus dieser mit größter Geistes-
gegenwart gewonnenen Einsicht aber entspringt ein Racheplan, dessen
unerhörte Präzision von der Verstandesschärfe und der kalten Ent-
schlußkraft seiner Urheberin Zeugnis gibt und von dem der Chor nur
hoffen kann, daß seine Ausführung von ihren Gefühlen (θυμός) nicht
geduldet werde (865).
Bei der Darlegung des Racheplans gibt Medea genaue Rechenschaft
über das Motiv der geplanten Tat: Kein Wort fällt dabei über Eifersucht,
Rachedurst oder andere Leidenschaften. Sie will, so sagt sie, daß nie-
mand sie für schwach, feige und indolent halte. Vielmehr solle man sehen,
daß sie Feinden schaden und Freunden nützen könne, denn solche Men-
schen führten ein ehrenvolles Leben (εύκλεέστατος βίος)29. Dazu paßt,
daß sie immer wieder im Verlauf des Stückes - auch im großen Monolog -
versichert, sie werde sich von ihren Feinden nicht ungestraft verlachen
lassen (383; 404; 797; 1049; 1355; 1362).
Medea mißt also ihr Tun ganz unverhüllt am Ehrenkodex des Man-
nes und Kriegers archaisch-klassischer Zeit, wie wir ihn in ganz ähnlicher
Formulierung aus Homer, Archilochos, Alkaios, aus der Tragödie und
anderen Texten kennen. Erst der platonische Sokrates bestreitet nach
dem Zeugnis des ‘Gorgias’ und des 1. Buches des ‘Staates’ die allgemeine
Gültigkeit und Richtigkeit der Maxime, an der Medea ihr Handeln nach
ihrem ausdrücklichen Bekenntnis orientiert.
Bemerkenswert und für ein athenisches Publikum im 5. Jh. gewiß
überraschend, wenn nicht anstößig, ist dabei, daß Medea ein ganz und
gar männliches Leitbild für ihr Tun in Anspruch nimmt. Kein Athener,
der dem Stück zusah, wird dabei auf den Gedanken gekommen sein,
Medea habe im Übermaß der Leidenschaft sich für dieses männliche
Ideal entschieden. Diese klare und bewußte Entscheidung, von der Me-
dea wiederholt im Verlauf des Stückes spricht, führt zu einer Handlungs-
weise, die nach der Auffassung der Zeit dem Manne geboten, der Frau
 
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