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Albrecht Dihle
15 B. Snell, Das frühste Zeugnis über Sokrates (Philol. 97, 1948, 125-134) sowie Sze-
nen griech. Dramen, Berlin 1971, 63ff.
16 Eur. Hippol. 380ff.
τά χρήστ’ έπιστάμεσθα καί γιγνώσκομεν,
ούκ έκπονοΰμεν δ’, οί μέν άργίας ϋπο
οί δ’ ήδονήν προθέντες άντί τοΰ καλοϋ
άλλην τιν’.
Vergleichbar Eur. fr. 220; 572; 840; 841 Nauck, worauf W. S. Barrett im Kommen-
tar (Oxford 1964, p. 228f.) zu der o.g. Stelle hinweist.
17 Θυμός darf man in einem 431 aufgeführten Drama nicht mit dem θυμός oder
θυμοειδές der Menschenseele, wie es die an Platon anknüpfende philosophische
Psychologie definierte, identifizieren und schon gar nicht mit dem aggressiv-irratio-
nalen Handlungsimpuls, der in hellenistisch-kaiserzeitlichen Texten gleichermaßen
durch θυμός oder όργή (Polyb. 3,10,5; Plut. coh. ir. 2; 5 u.ö.) wiedergegeben wird.
Vielmehr vertritt hier der θυμός, ähnlich wie schon bei Homer, den ganzen Men-
schen, insofern dieser spontane Handlungs- oder auch nur Verhaltensimpulse her-
vorbringt. Weil aber der Mensch über sein Tun, sein Reagieren und dessen Motive
nachzudenken imstande ist, kann der θυμός Gegenstand der Reflexion des betrof-
fenen Individuums werden. Bei Homer oder Archilochos und späterhin in der Tra-
dition der poetischen Sprache wird dieser Sachverhalt gern dadurch ausgedrückt,
daß der reflektierende Mensch zu seinem θυμός spricht, also zu sich selbst als dem,
der spontan reagiert, Impulse hervorbringt oder Stimmungen unterworfen ist (vgl.
J. Russo, Greek, Rom., Byz. Stud. 15, 1974, 139ff.). Homer läßt Odysseus πρός
öv μεγαλήτορα θυμόν reden (ε 298 u.ö.), Archilochos wendet sich mahnend an
seinen θυμός (128 West), wenn er sich selbst zu einer bestimmten Lebenshaltung
aufrufen will, und Euripides’ Medea sucht sich verzweifelt zu vergewissern, daß
ihr θυμός die erforderliche Mitwirkung an dem Mordplan verweigern werde (1056).
Bruno Snell (Szenen griech. Dramen 199 ff.) hat zu zeigen versucht, wie die Ver-
wendung des Wortes θυμός in dem erhaltenen Monolog der 'Medea’ des Neophron
eine gegenüber Euripides ältere Stufe der Redeweise repräsentiere. Neophron, der
Medea ihren θυμός auffordem läßt, sich recht zu beraten (βούλευσαι καλώς) oder
den verbrecherischen Impuls zurückzuhalten (κάτισχε λη μα καί σθένος θεοστυγές),
verfüge zwar über ein reicheres Arsenal psychologischer Ausdrucksmittel, gehe aber
prinzipiell nicht über Archilochos (θυμέ . .. γίνωσκε) oder sogar Homer (θυμόν
. . . ΐσχειν έν στήθεσσιν I 255) hinaus, denn anders als am Schluß des euripidei-
schen Medeamonologs - θυμός δέ κρείσσων τών έμών βουλευμάτων - sei die Kon-
zeption vom Konflikt zweier Kräfte innerhalb der eigenen Seele noch nicht gewon-
nen. Darum sei auch Neophron, dessen 'Medea’ angesichts der auffallenden wört-
lichen Übereinstimmungen (βουλεύματα/βούλευσαι u. a.) in den beiden Mono-
logen nicht ohne Beziehung zu der des Euripides sein könne, der Ältere.
Ich muß gestehen, daß mir dieses chronologische Raisonnement nicht ein-
leuchten will. Unbestritten dürfte zunächst wohl sein, daß Verse wie Eur. Med.
1056 (μή δήτα, θυμέ, μή σύ γ’ έργάση τάδε) oder 1242 (άλλ’ εΓ όπλίζου καρδία)
vgl. Eur. Ale. 837) als Zeugnisse der bei Neophron vorliegenden Ausdrucksweise zu
gelten hätten. Eur. Med. 1079 müßte dann, immer im Rahmen der von Snell postu-
lierten Entwicklung psychologischer Ausdrucksweise, als frühes und auch inner-
halb der ‘Medea’ seltenes Beispiel der neuen Konzeption angesehen werden. Darf
Albrecht Dihle
15 B. Snell, Das frühste Zeugnis über Sokrates (Philol. 97, 1948, 125-134) sowie Sze-
nen griech. Dramen, Berlin 1971, 63ff.
16 Eur. Hippol. 380ff.
τά χρήστ’ έπιστάμεσθα καί γιγνώσκομεν,
ούκ έκπονοΰμεν δ’, οί μέν άργίας ϋπο
οί δ’ ήδονήν προθέντες άντί τοΰ καλοϋ
άλλην τιν’.
Vergleichbar Eur. fr. 220; 572; 840; 841 Nauck, worauf W. S. Barrett im Kommen-
tar (Oxford 1964, p. 228f.) zu der o.g. Stelle hinweist.
17 Θυμός darf man in einem 431 aufgeführten Drama nicht mit dem θυμός oder
θυμοειδές der Menschenseele, wie es die an Platon anknüpfende philosophische
Psychologie definierte, identifizieren und schon gar nicht mit dem aggressiv-irratio-
nalen Handlungsimpuls, der in hellenistisch-kaiserzeitlichen Texten gleichermaßen
durch θυμός oder όργή (Polyb. 3,10,5; Plut. coh. ir. 2; 5 u.ö.) wiedergegeben wird.
Vielmehr vertritt hier der θυμός, ähnlich wie schon bei Homer, den ganzen Men-
schen, insofern dieser spontane Handlungs- oder auch nur Verhaltensimpulse her-
vorbringt. Weil aber der Mensch über sein Tun, sein Reagieren und dessen Motive
nachzudenken imstande ist, kann der θυμός Gegenstand der Reflexion des betrof-
fenen Individuums werden. Bei Homer oder Archilochos und späterhin in der Tra-
dition der poetischen Sprache wird dieser Sachverhalt gern dadurch ausgedrückt,
daß der reflektierende Mensch zu seinem θυμός spricht, also zu sich selbst als dem,
der spontan reagiert, Impulse hervorbringt oder Stimmungen unterworfen ist (vgl.
J. Russo, Greek, Rom., Byz. Stud. 15, 1974, 139ff.). Homer läßt Odysseus πρός
öv μεγαλήτορα θυμόν reden (ε 298 u.ö.), Archilochos wendet sich mahnend an
seinen θυμός (128 West), wenn er sich selbst zu einer bestimmten Lebenshaltung
aufrufen will, und Euripides’ Medea sucht sich verzweifelt zu vergewissern, daß
ihr θυμός die erforderliche Mitwirkung an dem Mordplan verweigern werde (1056).
Bruno Snell (Szenen griech. Dramen 199 ff.) hat zu zeigen versucht, wie die Ver-
wendung des Wortes θυμός in dem erhaltenen Monolog der 'Medea’ des Neophron
eine gegenüber Euripides ältere Stufe der Redeweise repräsentiere. Neophron, der
Medea ihren θυμός auffordem läßt, sich recht zu beraten (βούλευσαι καλώς) oder
den verbrecherischen Impuls zurückzuhalten (κάτισχε λη μα καί σθένος θεοστυγές),
verfüge zwar über ein reicheres Arsenal psychologischer Ausdrucksmittel, gehe aber
prinzipiell nicht über Archilochos (θυμέ . .. γίνωσκε) oder sogar Homer (θυμόν
. . . ΐσχειν έν στήθεσσιν I 255) hinaus, denn anders als am Schluß des euripidei-
schen Medeamonologs - θυμός δέ κρείσσων τών έμών βουλευμάτων - sei die Kon-
zeption vom Konflikt zweier Kräfte innerhalb der eigenen Seele noch nicht gewon-
nen. Darum sei auch Neophron, dessen 'Medea’ angesichts der auffallenden wört-
lichen Übereinstimmungen (βουλεύματα/βούλευσαι u. a.) in den beiden Mono-
logen nicht ohne Beziehung zu der des Euripides sein könne, der Ältere.
Ich muß gestehen, daß mir dieses chronologische Raisonnement nicht ein-
leuchten will. Unbestritten dürfte zunächst wohl sein, daß Verse wie Eur. Med.
1056 (μή δήτα, θυμέ, μή σύ γ’ έργάση τάδε) oder 1242 (άλλ’ εΓ όπλίζου καρδία)
vgl. Eur. Ale. 837) als Zeugnisse der bei Neophron vorliegenden Ausdrucksweise zu
gelten hätten. Eur. Med. 1079 müßte dann, immer im Rahmen der von Snell postu-
lierten Entwicklung psychologischer Ausdrucksweise, als frühes und auch inner-
halb der ‘Medea’ seltenes Beispiel der neuen Konzeption angesehen werden. Darf