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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0034
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Albrecht Dihle

werde die Kinder nicht ansehen können - was der große Monolog 1076 bestätigt -
und sie werde es nicht fertigbringen, wenn diese flehend die Arme ausstrecken,
die Hand mit ihrem Blut zu beflecken τλάμονι θυμφ. Es ist also Medeas θυμός,
von dem der Chor erwartet, er werde Medeas Bluttat nicht ertragen. Auch das
weist auf den großen Monolog, nämlich auf die Verse 1056 und 1079, voraus und
knüpft an die Verse 795 f. an, in denen Medea die von ihr geplante Tat als eigenes
Erleiden beschreibt.
Der Chor rechnet hier damit, daß Medeas weiblich-mütterliches Fühlen im
Konflikt mit ihrem männlich-kühnen Planen und Ins-Werk-Setzen (s.u. S. 33)
die Oberhand behalten wird.
20 Daß große Teile des Monologes, insbesondere die zweite Hälfte, als interpoliert
zu gelten haben, ist mit den verschiedensten Argumenten immer wieder vertreten
worden (vgl. außer G. Müllers großem Aufsatz Stud. It. N.S. 25,1951, 65-82 neuer-
dings Μ. Reeve, Class. Quart. 22, 1972, 55ff. sowie J. Baumert, Ένιοι άθετοΰσιν,
Diss. Tübingen 1968). Ich glaube, daß man außer den Versen 1062/63, die als
1240/41 wörtlich wiederkehren und an der zweiten Stelle fest im Zusammenhang
sitzen, nichts zu athetieren hat, vielmehr jede weitere Athetese den Monolog um
wesentliche Details verkürzt.
Besonders wichtig für ein Verständnis des Monologs ist der Nachvollzug der
jähen Stimmungsumschwünge der Sprecherin.
Der Beginn (1021-39) enthält eine von tiefer Trauer erfüllte, aber in gefaßtem
Ton gehaltene Abschiedsrede an die Kinder, denn der Entschluß, sie zu töten,
scheint bei Medea festzustehen. Der vehemente Ausbruch des Schmerzes darüber
erfolgte schon 1005, als der Paedagog von der günstigen Aufnahme der unheilbrin-
genden Geschenke berichtete, womit die Katastrophe, wie Medea - aber nicht der
Überbringer der Nachricht - weiß, nicht mehr aufzuhalten ist (1013/14).
Diese Beherrschung, von der die Verse 1021-1039 zeugen, verläßt Medea unter
dem Blick und dem Lächeln der Kinder vor ihr. Ein φεΰ, φευ markiert den Stim-
mungsumschwung, der sie zu dem Eingeständnis zwingt, die Tat nicht übers Herz
zu bringen (καρδία γάρ οΐχεται 1042), wie es der Chor 865 prophezeit hat. Sie wird
zu dem Entschluß geführt, den Racheplan oder doch seinen zweiten Akt fahren zu
lassen (χαιρέτω βουλεύματα 1044; 1048) und die Kinder mit sich außer Landes zu
nehmen (1045).
Mit dem Ausruf καίτοι τί πάσχω ruft sie sich in Vers 1049 zur Ausführung des
Racheplanes (τολμητέον 1051) zurück, wie es ihre Ehre verlangt. Sie würde zum
Gespött werden, wenn ihre Feinde straffrei ausgingen (1049/50), und sie muß sich
der weichen Regung und ihrer Feigheit (κάκη 1051) schämen. Die an die Kinder
gerichtete, von ihnen jedoch schwerlich befolgte Aufforderung, sich zu entfernen,
soll an dieser Stelle lediglich zeigen, daß sie jeden Anlaß, in ihrem scheinbar end-
gültigen (1055 χεΐρα δ’ ού διαφθερώ) Entschluß wiederum wankend zu werden,
sich fernzuhalten versucht.
Der extra metrum überlieferte Ausruf ά ά zeigt jedoch, daß Medeas Entschluß-
kraft aus einem tief zerrissenen Innern kommt. In ihrer Verzweiflung nimmt sie
Zuflucht zum eigenen θυμός. Er doch wenigstens solle diese Untat nicht bewir-
ken, er möge die Kinder schonen, er werde Freude an ihnen dort haben, wohin sie
die Mutter entführen will (vgl. 1045). Die Rolle, in der Medea hier ihren eigenen
θυμός sieht, entspricht genau den Erwartungen, die der Chor in der Replik auf den
Racheplan an Medeas θυμός gestellt hat (865).
 
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