Euripides’ Medea · Anmerkungen
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Aus dem Rückfall in die weiche Stimmung, in der Medeas θυμός die Oberhand
gewinnen soll (1056/58), ruft sie sich mit starken Worten zur vorhergehenden
Entschlossenheit zurück (1059 μα τούς παρ’ Άιδη νερτέρους άλάστορας). Zwei
neue Gründe treten dabei in ihren Gesichtskreis: Sie will die Kinder nicht der
Mißhandlung durch ihre Feinde überlassen, und sie versichert sich, daß der erste
Teil des Rachewerkes, der den zweiten unausweichlich nach sich zieht, bereits
vollzogen wurde (1064 πάντως πέπρακται ταΰτα κούκ έκφεύξεται; vgl. 386
τεθνάσι in ebenso suggestiver Vorwegnahme des Geschehens). Der erste Grund
wird von G. A. Seeck (Greek Rom. Byz. Stud. 9, 1968, 291) mit der Athetese der
Verse 1060-63 - nicht nur 1062/63 - eliminiert, aber ist dieser Eingriff berechtigt?
Das Motiv taucht 782 (del. Brunck) und 1238/39 wieder auf und war auch in der
Tradition vorgegeben (Steidle, Studien z. antiken Drama 158 mit Verweis auf schol.
E. Med. 264). Daß aber der große Monolog in den Erwägungen Medeas möglichst
viele der im Drama verwendeten Motive auftauchen läßt, hat angesichts der Rat-
losigkeit und Zerrissenheit der Sprecherin, die alle Wege und Auswege zu über-
denken versucht, die Wahrscheinlichkeit für sich.
Die Sicherheit, mit der Medea vom bereits erfolgten Vollzug des ersten Teiles
der Rache redet (σάφ’ οίδ’ έγώ 1066), hält nicht lange vor. Das beweisen ihre Worte
beim Auftreten des Boten (1116ff.), der die Schreckensnachricht vom Tode des
Königs und seiner Tochter bringen wird.
Die 1066 scheinbar endgültig wiederhergestellte Entschlossenheit bildet den
Ausgangspunkt zu dem neuerlichen Versuch, den Kindern in ähnlicher Weise wie
1021 ff. Abschiedsworte zu sagen. Der Übergang ist durch ein άλλα markiert, das
den Gegensatz zwischen der finsteren Gewißheit Medeas bei ihrem Rachewerk
und dem klar erkannten Leid in der Einsamkeit und Verlassenheit nach der Tat
(1067) bezeichnet. Wie in 1021ff. beginnt diese Rede mit dem Motiv der Trennung
von Mutter und Kindern. Dabei nimmt der Segenswunsch εύδαιμονοΐτον, άλλ’
εκεί (1073) das έκεΐ aus Vers 1058 wieder auf, das sich seinerseits auf Medeas tem-
porären Entschluß bezog, die Kinder mit sich außer Landes zu nehmen (1045). Der
Inhalt des έκεΐ hat sich nun gewandelt; es verweist in 1073 auf den bevorstehenden
Tod der Kinder. Eben das Aussprechen dieser Wahrheit- εύδαιμονοΐτον, άλλ’ έκεΐ
τά δ’ ένθάδε | πατήρ άφείλετο - veranlaßt Medea, ein letztes Mal sich der körper-
lichen Nähe ihrer Kinder zu vergewissern (ώ γλυκεία προσβολή, | ώ μαλθακός
χρώς πνεύμα δ’ ήδιστον τέκνων (1074/75). Aber diese Nähe stärkt ihren θυμός
derart, daß sie zur Ausführung des Planes unfähig wird. Es ist hier wiederum ein
Umschwung der Stimmung und Absichten anzusetzen. Wenn sie jetzt die Kinder
fortschickt und sich außerstande erklärt, ihren Anblick zu ertragen (1076/77), so
nicht mehr, weil sie in ihrer Entschlossenheit nicht wankend werden will wie in 1053.
Der letztgenannte Vers steht in einer „harten“ Perikope, während 1076/77 gerade
in weicher Stimmung gesprochen wird. Das muß gegen H. D. Broadhead (Class.
Rev. 2, 1952, 135/37) festgehalten werden, der an einen durch die Verse
1071-1076 dokumentierten neuerlichen Sinneswandel Medeas nicht glaubt und
darum für das χωρεΐτε, χωρεΐτ’ (1076) bereits die endgültige Überwindung aller
Muttergefühle voraussetzt. (Zu der in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen
Textänderung s. u. S. 32f.). Ich glaube vielmehr, daß das Fortschicken der Kin-
der jetzt damit zu erklären ist, daß in und um Medea nunmehr unter der Last des
Unglücks alles zusammenbricht (νικώμαι κακοΐς 1077). Mit der Aufgabe ihres
Racheplans, der ja Ausdruck ihrer entscheidenden Wertvorstellungen und damit
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Aus dem Rückfall in die weiche Stimmung, in der Medeas θυμός die Oberhand
gewinnen soll (1056/58), ruft sie sich mit starken Worten zur vorhergehenden
Entschlossenheit zurück (1059 μα τούς παρ’ Άιδη νερτέρους άλάστορας). Zwei
neue Gründe treten dabei in ihren Gesichtskreis: Sie will die Kinder nicht der
Mißhandlung durch ihre Feinde überlassen, und sie versichert sich, daß der erste
Teil des Rachewerkes, der den zweiten unausweichlich nach sich zieht, bereits
vollzogen wurde (1064 πάντως πέπρακται ταΰτα κούκ έκφεύξεται; vgl. 386
τεθνάσι in ebenso suggestiver Vorwegnahme des Geschehens). Der erste Grund
wird von G. A. Seeck (Greek Rom. Byz. Stud. 9, 1968, 291) mit der Athetese der
Verse 1060-63 - nicht nur 1062/63 - eliminiert, aber ist dieser Eingriff berechtigt?
Das Motiv taucht 782 (del. Brunck) und 1238/39 wieder auf und war auch in der
Tradition vorgegeben (Steidle, Studien z. antiken Drama 158 mit Verweis auf schol.
E. Med. 264). Daß aber der große Monolog in den Erwägungen Medeas möglichst
viele der im Drama verwendeten Motive auftauchen läßt, hat angesichts der Rat-
losigkeit und Zerrissenheit der Sprecherin, die alle Wege und Auswege zu über-
denken versucht, die Wahrscheinlichkeit für sich.
Die Sicherheit, mit der Medea vom bereits erfolgten Vollzug des ersten Teiles
der Rache redet (σάφ’ οίδ’ έγώ 1066), hält nicht lange vor. Das beweisen ihre Worte
beim Auftreten des Boten (1116ff.), der die Schreckensnachricht vom Tode des
Königs und seiner Tochter bringen wird.
Die 1066 scheinbar endgültig wiederhergestellte Entschlossenheit bildet den
Ausgangspunkt zu dem neuerlichen Versuch, den Kindern in ähnlicher Weise wie
1021 ff. Abschiedsworte zu sagen. Der Übergang ist durch ein άλλα markiert, das
den Gegensatz zwischen der finsteren Gewißheit Medeas bei ihrem Rachewerk
und dem klar erkannten Leid in der Einsamkeit und Verlassenheit nach der Tat
(1067) bezeichnet. Wie in 1021ff. beginnt diese Rede mit dem Motiv der Trennung
von Mutter und Kindern. Dabei nimmt der Segenswunsch εύδαιμονοΐτον, άλλ’
εκεί (1073) das έκεΐ aus Vers 1058 wieder auf, das sich seinerseits auf Medeas tem-
porären Entschluß bezog, die Kinder mit sich außer Landes zu nehmen (1045). Der
Inhalt des έκεΐ hat sich nun gewandelt; es verweist in 1073 auf den bevorstehenden
Tod der Kinder. Eben das Aussprechen dieser Wahrheit- εύδαιμονοΐτον, άλλ’ έκεΐ
τά δ’ ένθάδε | πατήρ άφείλετο - veranlaßt Medea, ein letztes Mal sich der körper-
lichen Nähe ihrer Kinder zu vergewissern (ώ γλυκεία προσβολή, | ώ μαλθακός
χρώς πνεύμα δ’ ήδιστον τέκνων (1074/75). Aber diese Nähe stärkt ihren θυμός
derart, daß sie zur Ausführung des Planes unfähig wird. Es ist hier wiederum ein
Umschwung der Stimmung und Absichten anzusetzen. Wenn sie jetzt die Kinder
fortschickt und sich außerstande erklärt, ihren Anblick zu ertragen (1076/77), so
nicht mehr, weil sie in ihrer Entschlossenheit nicht wankend werden will wie in 1053.
Der letztgenannte Vers steht in einer „harten“ Perikope, während 1076/77 gerade
in weicher Stimmung gesprochen wird. Das muß gegen H. D. Broadhead (Class.
Rev. 2, 1952, 135/37) festgehalten werden, der an einen durch die Verse
1071-1076 dokumentierten neuerlichen Sinneswandel Medeas nicht glaubt und
darum für das χωρεΐτε, χωρεΐτ’ (1076) bereits die endgültige Überwindung aller
Muttergefühle voraussetzt. (Zu der in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen
Textänderung s. u. S. 32f.). Ich glaube vielmehr, daß das Fortschicken der Kin-
der jetzt damit zu erklären ist, daß in und um Medea nunmehr unter der Last des
Unglücks alles zusammenbricht (νικώμαι κακοΐς 1077). Mit der Aufgabe ihres
Racheplans, der ja Ausdruck ihrer entscheidenden Wertvorstellungen und damit