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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0036
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Albrecht Dihle

ihrer Selbstachtung ist, muß sie realisieren (μανθάνω), daß sie sich, vom θυμός
bestimmt, einer unwürdigen, ihrem Wesen nicht gemäßen und darum schlechten
Verhaltensweise zuwendet (zu δράν μέλλω κακά 1078 vgl. u. S. 35). Nicht nur,
daß die Kinder, deren Anblick sie in diesem Augenblick nicht ertragen kann, durch
ihre bloße Existenz gleichsam am schamvollen Übergewicht des θυμός der Mutter
Schuld tragen, weil zu ihnen in diesem Augenblick die stärkste emotionale Bin-
dung besteht: Wo eine große Natur sich gezwungen sieht, das fahren zu lassen,
was bis dahin Grundlage ihres verantworteten Handelns bildete, will sie allein sein.
Eben dieses empfindet auch der Chor, der auf den Seelenkampf Medeas mit
weit ausholenden, ebenso teilnahmsvollen wie taktvoll zurückhaltenden, tiefsinni-
gen und allgemeinen Worten reagiert. Er mischt sich hier gerade nicht wie sonst
in Medeas Überlegungen und reagiert auch nicht unmittelbar auf ihre Entschlüsse
und Aussagen wie nach der Enthüllung ihres Planes (824ff.) oder nach der defini-
tiven, durch die Umstände erzwungenen Entscheidung, die Kinder zu töten
(1251 ff.). Der Chor versteht die letzten Worte der Medea gewiß nicht als Ankün-
digung, nunmehr zur Tötung der Kinder entschlossen zu sein. Andernfalls müßte
der Zuschauer gerade eine direkte und unmißverständliche Reaktion der Frauen
erwarten.
Dazu paßt eine letzte Beobachtung: Anfang und Schluß des Monolog (1021
bis 1039 bzw. 1067-1080) verraten den höchsten Stand der Selbstreflexion in Me-
deas Worten, während die dazwischenliegenden Perikopen, die jeweils durch einen
abrupten Stimmungswechsel voneinander getrennt sind, immer nur gleichsam
einen Teil Medeas sichtbar werden lassen. So steht der Eindeutigkeit der Aussagen
in jeder der mittleren Perikopen eine Ambivalenz des Ausdrucks im Einleitungs-
und Schlußteil gegenüber. In der Einleitung macht sich Medea über ihre αύθαδία
ebensowenig Illusionen wie über ihre tiefe Bindung an das Wohl ihrer Kinder,
im Schlußteil wird sie sich über die moralische Konsequenz ihres Tuns ebenso klar
wie über die Kräfte, die in ihrem Innern die Oberhand behalten. Gerade dieser
Aufbau des Monologs macht es höchst unwahrscheinlich, daß er im definitiven
Entschluß zur Tötung der Kinder gipfelte. Hierin unterscheidet sich Euripides
grundlegend von Neophron und fast allen seinen anderen Nachfolgern.
Versucht man in der angedeuteten Weise den Verlauf des großen Monologes
nachzuvollziehen, ihn als genaue Widerspiegelung der Umbrüche der Stimmung
und Entscheidungen ernst zu nehmen, ergeben sich eigentlich keine Unstimmig-
keiten, weder innerhalb dieser 60 Verse noch in der Beziehung auf den Hergang
des Stückes (s. o. S. 15). Jede Herausnahme einzelner Verse oder Versgruppen
mit der einzigen Ausnahme von 1062/63 würde freilich dieser Geschlossenheit
und Eindringlichkeit Abbruch tun. Auch die Schlußverse, die späterhin so oft
zitiert wurden, fügen sich dem Zusammenhang - nur darf man sie nicht als An-
kündigung Medeas verstehen, die Kinder töten zu wollen. Der Monolog selbst
und der Fortgang des Stückes (s. o. S. 33) widersprechen dieser Deutung auf das
entschiedenste, und davon, daß hier nüchterne, moralisch argumentierende Über-
legung vom Übermaß der Emotionen überrannt (W. Schadewaldt, Monolog und
Selbstgespräch, Berlin 1926, 190ff.; W. Steidle, Studien zum antiken Drama 155;
H. Musurillo, Am. Journ. Phil. 87, 1966, 63 u.v. a.) und die Katastrophe des
Kindermordes ausgelöst werde, kann wirklich keine Rede sein.
1 Daß man 1056 μή δήτα, θυμέ, μή σύ γ’ έργάση τάδε mit „Du doch jedenfalls nicht,
θυμός, solltest dieses" bewirken“ wiederzugeben hat, ergibt sich u. a. aus 336:
 
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