Der Prolog der ‘Bacchen’
51
IVa
Die ‘Phoinissen’ des Euripides gehören zu jenen Tragödien, die seit
langem wegen einer ganzen Reihe von Merkwürdigkeiten die Aufmerk-
samkeit der Interpreten auf sich gezogen haben. Schon in der Antike
wunderte man sich über die befremdende Stoffülle des Dramas, über
Partien, die nicht recht in die Handlung zu passen schienen, und in
neuerer Zeit haben so scharfsinnige Philologen wie Eduard Fraenkel
und W. H. Friedrich beträchtliche Teile der Tragödie für interpoliert er-
klärt - freilich nicht ohne in zahlreichen Einzelheiten sogleich auch nach-
drücklichen Widerspruch zu erfahren.
Ehe man daran geht, die vielen einzelnen Unstimmigkeiten und Selt-
samkeiten, an denen die ‘Phoinissen’ so reich sind, unter Berücksichti-
gung der Möglichkeit zu betrachten, daß der Text dieser Tragödie In-
terpolationen aus der Theaterpraxis der hellenistischen Zeit enthält,
sollte man sich vergewissern, welches denn eigentlich der dramatische
Vorwurf dieser Tragödie sei. Diese Frage ist nicht leicht zu beantwor-
ten. Steht das feindliche Brüderpaar im Zentrum des Interesses, und
zwar vor allem mit der sowohl gegenüber Aischylos wie der allgemeinen
Sagentradition verschobenen Beurteilung ihrer Charaktere? Oder ist es
eine Kreon-Tragödie, die im Tod des Menoikeus ihren Höhepunkt hat?
Oder ist vielleicht Jokaste die Hauptperson?
Unübersehbar dürfte sein, daß Euripides mit diesem Stück zu den
‘Sieben’ des Aischylos in Konkurrenz treten wollte, die ihrerseits am
Ende des 5. Jh. offenbar besonders berühmt waren und in den Augen
des Aristophanes (Ran. 1021 m. Schol.) so etwas wie die Quintessenz
aischyleischer Kunst darstellten. In der Szene, die als Parallele zum
Herzstück des aischyleischen Dramas, den sieben Botenberichten über
die Heerhaufen der Angreifer und den entsprechenden Befehlen des
Eteokles, angesehen werden kann, kritisiert Euripides ganz offen die
„Katalogpoesie“ seines großen Vorgängers (750-752). Im Kleinen und
Nebensächlichen so gut wie in wesentlichen Zügen und Charakteren
der Handlung eröffnet oft erst ein Seitenblick auf das aischyleische Vor-
bild die Einsicht in die Absichten des Euripides. Das zeigt sich bei-
spielsweise in der Umwertung des Brüderpaares ebenso wie in dem
Umstand, daß Aischylos - sicher mit der ihm vorliegenden Tradition -
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Die ‘Phoinissen’ des Euripides gehören zu jenen Tragödien, die seit
langem wegen einer ganzen Reihe von Merkwürdigkeiten die Aufmerk-
samkeit der Interpreten auf sich gezogen haben. Schon in der Antike
wunderte man sich über die befremdende Stoffülle des Dramas, über
Partien, die nicht recht in die Handlung zu passen schienen, und in
neuerer Zeit haben so scharfsinnige Philologen wie Eduard Fraenkel
und W. H. Friedrich beträchtliche Teile der Tragödie für interpoliert er-
klärt - freilich nicht ohne in zahlreichen Einzelheiten sogleich auch nach-
drücklichen Widerspruch zu erfahren.
Ehe man daran geht, die vielen einzelnen Unstimmigkeiten und Selt-
samkeiten, an denen die ‘Phoinissen’ so reich sind, unter Berücksichti-
gung der Möglichkeit zu betrachten, daß der Text dieser Tragödie In-
terpolationen aus der Theaterpraxis der hellenistischen Zeit enthält,
sollte man sich vergewissern, welches denn eigentlich der dramatische
Vorwurf dieser Tragödie sei. Diese Frage ist nicht leicht zu beantwor-
ten. Steht das feindliche Brüderpaar im Zentrum des Interesses, und
zwar vor allem mit der sowohl gegenüber Aischylos wie der allgemeinen
Sagentradition verschobenen Beurteilung ihrer Charaktere? Oder ist es
eine Kreon-Tragödie, die im Tod des Menoikeus ihren Höhepunkt hat?
Oder ist vielleicht Jokaste die Hauptperson?
Unübersehbar dürfte sein, daß Euripides mit diesem Stück zu den
‘Sieben’ des Aischylos in Konkurrenz treten wollte, die ihrerseits am
Ende des 5. Jh. offenbar besonders berühmt waren und in den Augen
des Aristophanes (Ran. 1021 m. Schol.) so etwas wie die Quintessenz
aischyleischer Kunst darstellten. In der Szene, die als Parallele zum
Herzstück des aischyleischen Dramas, den sieben Botenberichten über
die Heerhaufen der Angreifer und den entsprechenden Befehlen des
Eteokles, angesehen werden kann, kritisiert Euripides ganz offen die
„Katalogpoesie“ seines großen Vorgängers (750-752). Im Kleinen und
Nebensächlichen so gut wie in wesentlichen Zügen und Charakteren
der Handlung eröffnet oft erst ein Seitenblick auf das aischyleische Vor-
bild die Einsicht in die Absichten des Euripides. Das zeigt sich bei-
spielsweise in der Umwertung des Brüderpaares ebenso wie in dem
Umstand, daß Aischylos - sicher mit der ihm vorliegenden Tradition -