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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1981, 2. Abhandlung): Der Prolog der "Bacchen" und die antike Überlieferungsphase des Euripides-Textes: vorgetragen am 18. November 1980 — Heidelberg: Winter, 1981

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https://doi.org/10.11588/diglit.47795#0059
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Der Prolog der ‘Bacchen’

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des mit solcher Energie, daß sie, anders als die Jokaste des Sophokles,
geradezu zur Hauptperson des Dramas wird. Ihr freiwilliger Tod neben
den Leichen der Söhne setzt darum auch einen stärkeren dramatischen
Akzent als der Abgang Jokastes im ‘König Oedipus’, wenngleich die
Sequenz erfolgloses Bemühen / Freitod in beiden Fällen die gleiche ist.
Als Hauptperson ist die Jokaste des Euripides von einer Kontrastfi-
gur begleitet, von der sanften und schüchternen Antigone. Das zeigt
sich vor allem in den Versen 1270ff. Auch darin kann man eine An-
knüpfung an Sophokles sehen, ohne daß freilich diese Methode zusätz-
licher Charakterisierung im ‘König Oedipus’ verwendet würde.
Man gewinnt also den Eindruck, als habe Euripides mit den ‘Phoinis-
sen’ eine Tragödie schreiben wollen, die zu dem als Jokaste-Drama ver-
standenen ‘König Oedipus’ des Sophokles in Wettbewerb tritt. Endet
das so verstandene Stück des Sophokles mit der Katastrophe der Gattin
des Oedipus, so steht am Schluß des euripideischen Dramas der Unter-
gang der Mutter der feindlichen Brüder. Sophokles hat im ‘König Oedi-
pus’ den Untergang des Größten der Labdakiden dramatisch gestaltet
und dabei auch der Jokaste, seiner Mutter und Frau, sehr klare Kontu-
ren und ein individuelles Schicksal gegeben, ohne sie freilich zur Haupt-
person zu machen. Euripides läßt sein Publikum in den ‘Phoinissen’ das
ebenso düstere Geschehen, das den Ausgang des Labdakidenhauses
ausmacht, mit den Augen der Jokaste sehen, die auf diese Weise zur
Hauptperson der Handlung wird. Euripides’ Drama kann man also
auch als Wiederholung und Neugestaltung des Jokaste-Schicksals aus
dem ‘König Oedipus’ unter den veränderten Bedingungen der um eine
Generation weitergerückten Familiengeschichte begreifen. Die Prolog-
rede der Jokaste macht diese Parallelität durch die ausführliche Erzäh-
lung der Vorgeschichte fast überdeutlich, wenn sie gerade auch die be-
kannten, in der mythisch-poetischen Tradition ohne Variante überlie-
ferten Teile der Labdakidensage vollständig nacherzählt und keines-
wegs nur bei den Details verweilt, welche die Tradition nicht einhellig
bezeugt und die gerade deshalb als Voraussetzung für die Handlung des
folgenden Dramas genau erzählt werden müssen.
Wenn dieses Verständnis der ‘Phoinissen’ Richtiges trifft, darf man
wohl sagen, daß Euripides einerseits ein Gegenstück zur aischyleischen
Deutung des Krieges der Sieben gedichtet hat, andererseits aber eine
von Sophokles für die Gestaltung der Oedipus-Sage geschaffene Frau-
engestalt zum Mittelpunkt seiner Deutung der Geschichte vom Ende
der Labdakiden machte. Die ‘Phoinissen’ stehen also zu aischyleischen
und zu sophokleischen Vorbildern in einem jeweils sehr besonderen
 
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