Der Prolog der ‘Bacchen’
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|1E eyvcoKEV (B 116) spricht nicht dafür, und so bleibt ihre Verwendung
in einem Drama des Euripides seltsam. Mit Archytas, dessen Strahlen-
theorie - jedenfalls nach dem kurzen Bericht des Apuleius - altertümli-
cher wirkt als die Lehre Demokrits, kommt man gar erst ins frühe 4. Jh.
v. C.
Gewiß knüpfte die Sehstrahlentheorie an weit ältere Vorstellungen an,
die in Wendungen wie die vom strahlenden Auge oder im Glauben an
den Bösen Blick bezeugt sind. Aber die kunstvolle Formulierung unse-
rer Euripides-Stelle scheint eher auf eine entwickelte Theorie als auf
Vulgärvorstellungen anzuspielen. Eine so selbstverständlich-beiläufige
Verwertung der Theorie möchte man, noch dazu in einer lyrischen Par-
tie, ungern in vorhellenistische Zeit setzen. Erst im Hellenismus beginnt
die eigentliche Breitenwirkung von Philosophie und Wissenschaft mit
ihren distinkten Einzeltheorien.
Die Sehstrahlentheorie kommt in dem Klagelied der Antigone gleich
ein zweites Mal vor: Vor den drei Leichen redet Antigone den blinden
Vater an (1564) ei öe tsOquijioi y’ £0’ dpttOTa Xeuoocov / öiEÄ.iou tcxöe
ocopcxTOt vskqcdv / öp|iotTog otuyatg ooilg EKEveopag.
„Wenn du, das Sonnenlicht noch sehend, diese toten Körper mit dei-
nen Augenstrahlen berührtest.“ ’Ejrivcnpcw) ist wie jipoovcopdo) und
dptpivtopdo) ein dezidiert transitives Verb, das ein affiziertes Objekt
fordert und in der Bedeutung „zuteilen“ mehrfach in lyrischen Partien
der Tragödie belegt ist. Diese Bedeutung paßt hier nicht. Ebensowenig
läßt sich eine Verbindung zu der gelegentlich, vor allem in der Orakel-
sprache vorkommenden Bedeutung des Simplex „betrachten, erwägen“
(Soph. O. R. 300; Plat. Grat. 411 D) herstellen, denn Phoen. 1564 geht
es um die physische, nicht die intellektuelle Seite des Sehaktes. Am
nächsten kommt unserem Vers eine Stelle bei Sophokles (Phil. 7/7 an-
ap.). Dort steht JipoGVCopdo) in der Bedeutung „herantreten an, Kontak-
tieren“, und zwar mit dem einfachen Akkusativ. Eben dieses ist auch
der Sinn des Wortes Emvojudco im Lied der Antigone. Wenn Oedipus
nicht blind wäre, könnte er die Leichen seiner Lieben mit Hilfe der Seh-
strahlen seiner Augen berühren, mit ihnen physisch in Verbindung tre-
ten.
Die Verse 1570ff. des Klageliedes der Antigone sind folgendermaßen
überliefert: iqupE ö’ ev ’H^EKTpaiot Jiukatg tekvo. / XanoxQÖcpov kcxtcx
AEipaK« koy/aig, / koivöv svudXiov, / p,äTY]Q, ojgte XsovTotg EvavXovg, /
potpvapEvoug EJti Tpctupciaiv, aiuGTog / rjörj rpu/pav Xotßav cpovtav, /
äv EÄa/’ "Aiöag, (ii.tooe ö’ ’ Aorjg. Unter den überlieferten variae lec-
tiones und den Konjekturen verdient nur Porsons Xeovte ovvauXw
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|1E eyvcoKEV (B 116) spricht nicht dafür, und so bleibt ihre Verwendung
in einem Drama des Euripides seltsam. Mit Archytas, dessen Strahlen-
theorie - jedenfalls nach dem kurzen Bericht des Apuleius - altertümli-
cher wirkt als die Lehre Demokrits, kommt man gar erst ins frühe 4. Jh.
v. C.
Gewiß knüpfte die Sehstrahlentheorie an weit ältere Vorstellungen an,
die in Wendungen wie die vom strahlenden Auge oder im Glauben an
den Bösen Blick bezeugt sind. Aber die kunstvolle Formulierung unse-
rer Euripides-Stelle scheint eher auf eine entwickelte Theorie als auf
Vulgärvorstellungen anzuspielen. Eine so selbstverständlich-beiläufige
Verwertung der Theorie möchte man, noch dazu in einer lyrischen Par-
tie, ungern in vorhellenistische Zeit setzen. Erst im Hellenismus beginnt
die eigentliche Breitenwirkung von Philosophie und Wissenschaft mit
ihren distinkten Einzeltheorien.
Die Sehstrahlentheorie kommt in dem Klagelied der Antigone gleich
ein zweites Mal vor: Vor den drei Leichen redet Antigone den blinden
Vater an (1564) ei öe tsOquijioi y’ £0’ dpttOTa Xeuoocov / öiEÄ.iou tcxöe
ocopcxTOt vskqcdv / öp|iotTog otuyatg ooilg EKEveopag.
„Wenn du, das Sonnenlicht noch sehend, diese toten Körper mit dei-
nen Augenstrahlen berührtest.“ ’Ejrivcnpcw) ist wie jipoovcopdo) und
dptpivtopdo) ein dezidiert transitives Verb, das ein affiziertes Objekt
fordert und in der Bedeutung „zuteilen“ mehrfach in lyrischen Partien
der Tragödie belegt ist. Diese Bedeutung paßt hier nicht. Ebensowenig
läßt sich eine Verbindung zu der gelegentlich, vor allem in der Orakel-
sprache vorkommenden Bedeutung des Simplex „betrachten, erwägen“
(Soph. O. R. 300; Plat. Grat. 411 D) herstellen, denn Phoen. 1564 geht
es um die physische, nicht die intellektuelle Seite des Sehaktes. Am
nächsten kommt unserem Vers eine Stelle bei Sophokles (Phil. 7/7 an-
ap.). Dort steht JipoGVCopdo) in der Bedeutung „herantreten an, Kontak-
tieren“, und zwar mit dem einfachen Akkusativ. Eben dieses ist auch
der Sinn des Wortes Emvojudco im Lied der Antigone. Wenn Oedipus
nicht blind wäre, könnte er die Leichen seiner Lieben mit Hilfe der Seh-
strahlen seiner Augen berühren, mit ihnen physisch in Verbindung tre-
ten.
Die Verse 1570ff. des Klageliedes der Antigone sind folgendermaßen
überliefert: iqupE ö’ ev ’H^EKTpaiot Jiukatg tekvo. / XanoxQÖcpov kcxtcx
AEipaK« koy/aig, / koivöv svudXiov, / p,äTY]Q, ojgte XsovTotg EvavXovg, /
potpvapEvoug EJti Tpctupciaiv, aiuGTog / rjörj rpu/pav Xotßav cpovtav, /
äv EÄa/’ "Aiöag, (ii.tooe ö’ ’ Aorjg. Unter den überlieferten variae lec-
tiones und den Konjekturen verdient nur Porsons Xeovte ovvauXw