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Albrecht Dihle
ner shame culture: Das Decorum, an das der Adlige sich mehr gebun-
den weiß als der Niedriggeborene, ist der Fürsorgepflicht für den blin-
den Vater übergeordnet. Ein Verhalten, wie es Antigones Entschluß
entspricht, würde die Familienehre noch zusätzlich herabsetzen. Anti-
gones Antwort auf diese apodiktische Äußerung des Vaters verrät ein
sehr differenziertes moralisches Raisonnement (1692): oü, ooxfoooijvp
y’, dtkXd yevvaia, irotTEp. Nein, ein solches Verhalten entspricht den
Maßstäben adliger Lebensführung, ist nicht ein aio/pov, sondern ein
yevvaiov — sofern es mit oc)<pooot’vr| verbunden oder motiviert ist.
Was bedeutet ococppocbvr] in diesem Zusammenhang? Ihr Vorhan-
densein wird offenbar als einschränkende (ye) Bedingung dafür voraus-
gesetzt, daß Antigone ihr geplantes Verhalten im Gegensatz zur Aussa-
ge des Vaters (ov . . . cüJ.d) nicht für „häßlich“, sondern den Wertmaß-
stäben wohlgeborener Menschen entsprechend (yevvaiov) erklären
kann.
Zunächst bietet sich an, das Wort im Sinn der von einem jungen Mäd-
chen geforderten Sittsamkeit und Zurückhaltung zu verstehen. Auch als
Begleiterin eines blinden Bettlers, in aller Schutz- und Heimatlosigkeit,
will Antigone diese Eigenschaft behalten, und damit würde ihre schein-
bar gegen Sitte und Anstand verstoßende Lebensweise an der Seite des
verbannten Vaters das Odium des Häßlichen, Ungeziemenden verlie-
ren.
Näher liegt aber doch wohl ein anderes, tiefergehendes Verständnis
des Wortes: Es bedeutet die allgemeine Besonnenheit, die Fähigkeit,
selbständig, selbstverantwortlich und situationsgerecht zu handeln. In
diesem Fall könnte man - sehr frei - übersetzen „vorausgesetzt, sie
weiß, was sie tut“. Mit dem Hinweis auf die von ihr in dieser unerhörten
Situation geforderte eigene, nur von ihr zu vertretende Entscheidung
widerlegt Antigone endgültig jedes Argument, das aus dem Arsenal der
ethischen Konvention genommen werden kann. Und Oedipus gibt sich
nach dieser Antwort seiner Tochter denn auch geschlagen.
Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß Euripides diese weitergehende
moralische Reflexion angestellt hat. Doch würde es auch nicht überra-
schen, wenn sich herausstellte, daß diese Verse erst in hellenistischer
Zeit gedichtet wurden. Die Frage nach der Unabhängigkeit des Einzel-
nen von den Maßstäben seiner sozialen Umwelt überall da, wo es im
strengen Sinn um ethische Entscheidungen geht, hat man seit Platon al-
lenthalben erörtert. Die Breitenwirkung dieser Diskussion aber war viel
größer als der Streit um vergleichbare Fragen im ausgehenden 5. Jh.
Albrecht Dihle
ner shame culture: Das Decorum, an das der Adlige sich mehr gebun-
den weiß als der Niedriggeborene, ist der Fürsorgepflicht für den blin-
den Vater übergeordnet. Ein Verhalten, wie es Antigones Entschluß
entspricht, würde die Familienehre noch zusätzlich herabsetzen. Anti-
gones Antwort auf diese apodiktische Äußerung des Vaters verrät ein
sehr differenziertes moralisches Raisonnement (1692): oü, ooxfoooijvp
y’, dtkXd yevvaia, irotTEp. Nein, ein solches Verhalten entspricht den
Maßstäben adliger Lebensführung, ist nicht ein aio/pov, sondern ein
yevvaiov — sofern es mit oc)<pooot’vr| verbunden oder motiviert ist.
Was bedeutet ococppocbvr] in diesem Zusammenhang? Ihr Vorhan-
densein wird offenbar als einschränkende (ye) Bedingung dafür voraus-
gesetzt, daß Antigone ihr geplantes Verhalten im Gegensatz zur Aussa-
ge des Vaters (ov . . . cüJ.d) nicht für „häßlich“, sondern den Wertmaß-
stäben wohlgeborener Menschen entsprechend (yevvaiov) erklären
kann.
Zunächst bietet sich an, das Wort im Sinn der von einem jungen Mäd-
chen geforderten Sittsamkeit und Zurückhaltung zu verstehen. Auch als
Begleiterin eines blinden Bettlers, in aller Schutz- und Heimatlosigkeit,
will Antigone diese Eigenschaft behalten, und damit würde ihre schein-
bar gegen Sitte und Anstand verstoßende Lebensweise an der Seite des
verbannten Vaters das Odium des Häßlichen, Ungeziemenden verlie-
ren.
Näher liegt aber doch wohl ein anderes, tiefergehendes Verständnis
des Wortes: Es bedeutet die allgemeine Besonnenheit, die Fähigkeit,
selbständig, selbstverantwortlich und situationsgerecht zu handeln. In
diesem Fall könnte man - sehr frei - übersetzen „vorausgesetzt, sie
weiß, was sie tut“. Mit dem Hinweis auf die von ihr in dieser unerhörten
Situation geforderte eigene, nur von ihr zu vertretende Entscheidung
widerlegt Antigone endgültig jedes Argument, das aus dem Arsenal der
ethischen Konvention genommen werden kann. Und Oedipus gibt sich
nach dieser Antwort seiner Tochter denn auch geschlagen.
Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß Euripides diese weitergehende
moralische Reflexion angestellt hat. Doch würde es auch nicht überra-
schen, wenn sich herausstellte, daß diese Verse erst in hellenistischer
Zeit gedichtet wurden. Die Frage nach der Unabhängigkeit des Einzel-
nen von den Maßstäben seiner sozialen Umwelt überall da, wo es im
strengen Sinn um ethische Entscheidungen geht, hat man seit Platon al-
lenthalben erörtert. Die Breitenwirkung dieser Diskussion aber war viel
größer als der Streit um vergleichbare Fragen im ausgehenden 5. Jh.