Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre
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zesses vorsichtiger und unbestimmter waren, etwa Ranke in den „Epo-
chen der neueren Geschichte“, in denen er zwar die weltgeschichtliche
Bewegung skizzierte, aber sich bemühte, nicht von „Fortschritt“ und
„leitenden Ideen“ zu sprechen, sondern von den verschiedenartigen
„herrschenden Tendenzen“ der Jahrhunderte.13 14 Burckhardt gibt -
jedenfalls von der Disposition her und auf den ersten Blick - gar keinen
Längsschnitt, sondern Querschnitte, typologische Beobachtungen zu
den wechselseitigen Einwirkungen der Potenzen Staat, Religion und
Kultur aufeinander. Auch die großen, beschleunigten geschichtlichen
Veränderungen behandelt er in typisierter Form: in seiner „Sturm-
lehre“, wie er sein Kapitel über die Krisen nannte (225). Schon Karl
Joel hat darauf hingewiesen, daß bei dieser Position Burckhardts die
Rollen des Philosophen und des Historikers völlig vertauscht erschei-
14
nen.
Zweitens: Die Kultur spielt eine große, gleichberechtigte, vielleicht
sogar übergeordnete Rolle neben Staat und Religion, den traditionel-
len Hauptgegenständen der Geschichtsschreibung. Diese Position
Burckhardts war freilich nicht so neu. Wenn auch die profane politische
Geschichte und die Kirchengeschichte die ältesten und verbreitetsten
Formen waren, so hatte doch schon Bacon auf die Bedeutung der
Entwicklung von Künsten und Wissenschaften hingewiesen, und Vol-
taire hatte mit seinem „Essai sur l’esprit et les moeurs des nations“ die
Kulturgeschichtsschreibung eingeführt. Aber Hegel und viele politi-
sche Historiker wie Droysen hatten dem Staat als „Gesamtorganismus
aller sittlichen Gemeinsamkeiten“15 eine umfassendere, führende Stel-
lung in der geschichtlichen Welt zugesprochen, und andere, wie beson-
ders Ranke, hatten vorzugsweise das Ineinanderwirken von Staat und
Religion dargestellt. Diesem Ineinanderwirken fügte Burckhardt das
der Kultur hinzu. Ich lasse die besondere Problematik dieses Kultur-
begriffs hier noch dahingestellt und mache zunächst nur darauf auf-
merksam, daß eigentlich bei aller Bewunderung der Potenzen- und
Bedingtheitenlehre niemand sich getrieben gefühlt hat, sie etwa lehr-
mäßig zu verbreiten, sie zu prüfen, auszubauen oder umzubauen.
Außerdem geht, soviel auch über Burckhardt als Kulturhistoriker
gesagt worden ist, kaum jemand speziell und genau auf Sinn und Aus-
sagekraft dieser Lehre ein, auch nicht Werner Kaegi und Peter Ganz,
13 Ranke (wie Anm. 1), S. 66ff.
14 Karl Joel, Jakob Burckhardt als Geschichtsphilosoph, Basel 1918, S. 59f.
15 Nach der Formulierung von Droysen, ed. Hübner (wie Anm. 4), S. 352.
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zesses vorsichtiger und unbestimmter waren, etwa Ranke in den „Epo-
chen der neueren Geschichte“, in denen er zwar die weltgeschichtliche
Bewegung skizzierte, aber sich bemühte, nicht von „Fortschritt“ und
„leitenden Ideen“ zu sprechen, sondern von den verschiedenartigen
„herrschenden Tendenzen“ der Jahrhunderte.13 14 Burckhardt gibt -
jedenfalls von der Disposition her und auf den ersten Blick - gar keinen
Längsschnitt, sondern Querschnitte, typologische Beobachtungen zu
den wechselseitigen Einwirkungen der Potenzen Staat, Religion und
Kultur aufeinander. Auch die großen, beschleunigten geschichtlichen
Veränderungen behandelt er in typisierter Form: in seiner „Sturm-
lehre“, wie er sein Kapitel über die Krisen nannte (225). Schon Karl
Joel hat darauf hingewiesen, daß bei dieser Position Burckhardts die
Rollen des Philosophen und des Historikers völlig vertauscht erschei-
14
nen.
Zweitens: Die Kultur spielt eine große, gleichberechtigte, vielleicht
sogar übergeordnete Rolle neben Staat und Religion, den traditionel-
len Hauptgegenständen der Geschichtsschreibung. Diese Position
Burckhardts war freilich nicht so neu. Wenn auch die profane politische
Geschichte und die Kirchengeschichte die ältesten und verbreitetsten
Formen waren, so hatte doch schon Bacon auf die Bedeutung der
Entwicklung von Künsten und Wissenschaften hingewiesen, und Vol-
taire hatte mit seinem „Essai sur l’esprit et les moeurs des nations“ die
Kulturgeschichtsschreibung eingeführt. Aber Hegel und viele politi-
sche Historiker wie Droysen hatten dem Staat als „Gesamtorganismus
aller sittlichen Gemeinsamkeiten“15 eine umfassendere, führende Stel-
lung in der geschichtlichen Welt zugesprochen, und andere, wie beson-
ders Ranke, hatten vorzugsweise das Ineinanderwirken von Staat und
Religion dargestellt. Diesem Ineinanderwirken fügte Burckhardt das
der Kultur hinzu. Ich lasse die besondere Problematik dieses Kultur-
begriffs hier noch dahingestellt und mache zunächst nur darauf auf-
merksam, daß eigentlich bei aller Bewunderung der Potenzen- und
Bedingtheitenlehre niemand sich getrieben gefühlt hat, sie etwa lehr-
mäßig zu verbreiten, sie zu prüfen, auszubauen oder umzubauen.
Außerdem geht, soviel auch über Burckhardt als Kulturhistoriker
gesagt worden ist, kaum jemand speziell und genau auf Sinn und Aus-
sagekraft dieser Lehre ein, auch nicht Werner Kaegi und Peter Ganz,
13 Ranke (wie Anm. 1), S. 66ff.
14 Karl Joel, Jakob Burckhardt als Geschichtsphilosoph, Basel 1918, S. 59f.
15 Nach der Formulierung von Droysen, ed. Hübner (wie Anm. 4), S. 352.