Metadaten

Schulin, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1983, 2. Abhandlung): Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre: zu seiner Vorlesung über das Studium der Geschichte (den Weltgeschichtlichen Betrachtungen)$dvorgetragen am 30. April 1983 — Heidelberg: Winter, 1983

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47810#0021
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre

19

zum großen Kulturherd und geistigen Tauschplatz - zu der seltenen
(später beinahe nur in Florenz wiederholten) Erscheinung eines voll-
ausgebildeten, blühenden Kulturlebens.
In Rom herrschte eindeutig der Staat und ließ sich nicht zersetzen,
rettete aber seinerseits durch seine Toleranz fast alle Kulturen und Reli-
gionen der alten Welt. Bis es im 4. Jahrhundert zu einem Umschlag
kam, den Burckhardt den größten nennt, der je vorgekommen sei (191,
311): Die Religion in Form der christlichen Kirche wird nun die beherr-
schende Potenz und bedingt Staat und Kultur im großen ganzen bis ins
Ende des Mittelalters. „Seither Einmischung des Metaphysischen in
alle Politik, Kriege usw. irgendwie und an irgendeiner Stelle.“ (311) Be-
merkenswert ist an diesem Umschlag, dem Burckhardt ja auch sein
erstes Buch über die Zeit Constantins des Großen gewidmet hat,
dreierlei: Erstens verändert er die Religion. Sie wird als ecclesia trium-
phans von der Potenz Staat angesteckt, sie wird, „statt eine sittliche
Macht im Völkerleben zu sein“, eine zweite politische Macht und
ordnet entsprechend alle religiöse Vielfalt ihrem Einheitszwang unter
(328). Zweitens ist dieser Umschlag trotz seiner umwälzenden Bedeu-
tung nicht das, was Burckhardt eine wahre, echte Krise nennt. Er wen-
det seinen Krisenbegriff allgemein sehr sparsam an, hypothetisch für
die Staatsentstehung überhaupt (257), dann entschieden für Athen im
Peloponnesischen Krieg (nach der beispielhaften Darstellung durch
den ersten großen Krisenhistoriker Thukydides), aber dann weniger
entschieden für die „Revolution Caesars“ (207), weil er meinte, daß
Rom die eigentliche Krise, d.h. den Durchgang der Geschichte durch
eine Massenherrschaft, immer vermieden oder jedenfalls verschleppt
habe (346). Auch die christliche Kirche war eine Stütze für das „kra-
chende Imperium“ (347) und nahm immerhin einen Teil der antiken
Kultur „unter ihre Fittiche“ (348). Die wahre Krise war erst die Völker-
wanderung, „und diese Crisis gleicht keiner anderen uns näher be-
kannten, und ist einzig in ihrer Art“ (348). Drittens ist bemerkenswert,
daß es dem Abendland in seiner Kultur nach Umschlag und Krise
besser geht als Byzanz und dem islamischen Bereich. Zwar wäre - dies
ist einer der wenigen historischen Optative in Burckhardts Weltge-
schichtlichen Betrachtungen - eine Konstellation der Potenzen, wie sie
sich im Reich Karls des Großen mit seiner starken staatlichen Macht
und seiner beginnenden Kulturrenaissance ankündigte, noch besser
gewesen als die päpstliche Hierarchie (320), aber die Kultur hatte das
„unaussprechliche Glück, daß Staat und Kirche nicht in ein erdrücken-
des Eins zusammenrannen“ (304), wie es in Byzanz und im islami-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften