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Schulin, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1983, 2. Abhandlung): Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre: zu seiner Vorlesung über das Studium der Geschichte (den Weltgeschichtlichen Betrachtungen)$dvorgetragen am 30. April 1983 — Heidelberg: Winter, 1983

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https://doi.org/10.11588/diglit.47810#0024
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Ernst Schulin

des modernen Staates, der modernen Kultur und der Religion unklar,
ob künftig der große Gewaltstaat mit Bürokratie und Militär herrschen
wird oder das, was er business und Erwerbsgier nennt (was wir Kapita-
lismus nennen würden), oder ob neue Revolutionen kommen. Burck-
hardt glaubt vor allem an den Gewaltstaat. Hält aber auch, wie er bei
den beiden Wiederholungen seiner Vorlesung am Schluß sagte (376),
eine Bewußtseinsänderung für möglich, ähnlich deijenigen des 3. oder
4. Jahrhunderts, also vielleicht einen Neuaufstieg der derzeitig
schwächsten Potenz.

Kultur und Kulturgeschichte
So also sähe der Gang der Weltgeschichte nach Burckhardts Poten-
zen, Bedingtheiten und Krisen aus. Man erkennt einen nicht häufigen,
aber ziemlich deutlichen Wechsel der jeweils herrschenden Potenz: es
gibt eine Zeit der Vorherrschaft des Staates, dann eine Zeit der Vorherr-
schaft der Religion, dann wieder des Staates, dann der Kultur, dazwi-
schen und am Ende Krisenzeiten. Man kann nicht sagen, daß Burck-
hardt diesen Gang der Weltgeschichte durch seine systematische
Betrachtungsweise verdeckt habe oder gar verheimlichen wollte, denn
innerhalb der sechs Bedingtheiten geht er jeweils chronologisch vor,
gibt also sechs Längsschnitte mit wechselnden Fragestellungen und
entsprechenden Auslassungen und Schwerpunkten. Sechs einzelne
Druckplatten mit je zwei Farben stehen nebeneinander, zeigen alle
zwar nur undeutlich das Gesamtbild, können aber zu einem solchen
zusammengedruckt werden. Die Frage ist, warum Burckhardt das
nicht getan, sondern sie so systematisch getrennt gehalten hat.
Zunächst wird man - Burckhardt betont ja selber immer, nach sei-
ner Art übertrieben bescheiden, die „Willkür“, die „systematische
Harmlosigkeit“ seines Schemas, das bloß „eine Anschauung ermögli-
chen“ soll27 - das rhetorische Potential bei seiner Vorgehensweise
nicht gering veranschlagen dürfen. Die Ungewohntheit der Fragestel-
lungen, die entsprechend spannende Neuorganisation des historischen
27 S. 254 und 293. Ich gehe dabei mit Rüsen (wie Anm. 16), S. 189 u. 200 einig, daß
man Burckhardts „penetrantes Herunterspielen“ des systematischen Charakters
oder der theoretischen Bedeutung seiner Analysen in den Weltgeschichtlichen
Betrachtungen keineswegs unkritisch übernehmen darf. Das zeigt hoffentlich meine
gesamte Interpretation. Gerade dafür muß aber die rhetorische Komponente als
besondere Schicht beachtet werden.
 
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