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Schulin, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1983, 2. Abhandlung): Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre: zu seiner Vorlesung über das Studium der Geschichte (den Weltgeschichtlichen Betrachtungen)$dvorgetragen am 30. April 1983 — Heidelberg: Winter, 1983

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https://doi.org/10.11588/diglit.47810#0025
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Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre

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Materials und Unvorhersehbarkeit der Ergebnisse waren wirkungs-
volle Züge der Vorlesung. Die Potenzen verwandelten sich oft in uner-
warteter Weise: Staat ist einmal Despotie des Großreiches, einmal
demokratischer Anspruch der Polis; Religion kann metaphysisches
Bedürfnis des Einzelnen sein oder eine große Trostlehre für menschli-
ches Leiden oder kirchliche Macht; bei der Kultur wird man geradezu
von Effekten der enharmonischen Verwechslung verblüfft, wenn sie
einmal Kunst, dann Geselligkeit oder Erwerbstrieb oder politische
Kritik sein kann. Und herrscht die Kultur, so könnte man sich (sehr frei
nach Schiller) belehrt fühlen, so herrscht, ach, schon die Kultur nicht
mehr, - wie es Burckhardt am 19. Jahrhundert zeigt. Das ist alles aufre-
gend und rhetorisch effektvoll, aber da besonders im Falle der Kultur
die Sammlung verschiedenartiger Phänomene unter einer Potenz ihre
fragwürdigen Seiten hat, so ist schon damit auch in Frage gestellt, wie
weit man von der Vorherrschaft dieser oder jener Potenz sprechen
kann. Schon weil im Gesamtlängsschnitt die so fragwürdige Einteilung
nach der jeweils vorherrschenden Potenz so penetrant in den Vorder-
grund treten würde, muß ihn Burckhardt zurückdrängen. Er muß ein
Schema bevorzugen, das er als unverbindlicher hinstellen kann,
obwohl es ihn zweifellos reizt, durch dieses Schema helle und dunkle
Seiten der Religion und besonders der Kultur ins Blickfeld zu bringen,
gewagte Kombinationen vermutungsweise vorzutragen und überhaupt
Überraschungen durch die ungewohnte Perspektive zu erzeugen.
Aber dies sind natürlich nicht die einzigen Gesichtspunkte. Burckhardt
wollte durch seine Betrachtungsweise die Erkenntnis vermitteln, wie-
viel wichtiger als der Gesamtgang und die jeweilige Vorherrschaft die
jeweiligen sehr differenzierten Konstellationen der Potenzen zueinan-
der sind. Die eigentliche Erkenntnis- und Beurteilungsarbeit sollte sich
auf die Durchleuchtung der immer schwierig zu klärenden Bedin-
gungsverhältnisse richten. Wie er selber sagt: Bedingen und Bedingt-
sein wechselt „zwischen aktiv und passiv oft in raschem Umschlag; oft
täuscht sich der Blick noch lange hierüber. Und jedenfalls existiert in
Zeiten hoher Kultur immer Alles auf allen Stufen des Bedingens und
der Bedingtheit gleichzeitig, zumal wenn das Erbe vieler Epochen
schichtweise übereinander liegt.“ (254) Es können Veränderungen zu
etwas Neuem hin, also Krisen, aber ebensooft Restaurationen und
Renaissancen sein, die diese Schichtungsverhältnisse ändern. Neben
diese Vorstellung Burckhardts von der Übereinanderschichtung in der
gleichen Zeit ist seine Vorstellung von der „Geisterlandkarte“ (228) zu
setzen, vom gleichzeitigen räumlichen Nebeneinander verschiedenar-
 
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