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Ernst Schulin
mehr als sonst in die Nähe der „unpolitischen“ Kultur jenseits von Staat
und Kirche, die von zeitgenössischen Kulturhistorikem wie Riehl,
Freytag und Biedermann bevorzugt dargestellt wurde.33 „Glücklicher-
weise schwankt nicht nur der Begriff Kulturgeschichte, sondern es
schwankt auch die akademische Praxis (und noch einiges andere)“,
erklärte Burckhardt, als er 1872, ein Semester nach der ersten Wieder-
holung der Vorlesung über das Studium der Geschichte, erstmals
„Griechische Kulturgeschichte“ las, und definierte sie nun als Ge-
schichte des Geistes, der Denkweisen und Anschauungen in Mythos,
Staat, Religion, Künsten und Wissenschaften.34 Alle geschichtlichen
Potenzen sind also wieder in sie einbezogen. Zehn Jahre später, 1882,
als er die Vorlesung über die Kultur des Mittelalters wiederaufnahm,
versuchte er eine letzte, vom Geistigen mehr auf die Kontinuitäten ver-
schobene Definition. In Gegenüberstellung zur „erzählenden Ge-
schichte“ bezeichnete er sie als die Betrachtungsweise, in der „auch die
Zustände, das Dauernde“ betont werde, „wir kommen damit auf die
großen herrschenden Kräfte, auf deren Kämpfe und Durcheinander-
wirken, auf die verschiedenen Physiognomien der Welt, die Zeiten, das
Wissenswürdigste der Vergangenheit“.35 Hiernach ließ er sich trotz
seiner großen Autorität als Kulturhistoriker in den einige Jahre später
aufbrechenden Streit über den Vorrang von politischer oder Kultur-
geschichte nicht mehr hineinziehen, vor allem wohl wegen der Proble-
matik eines spezifischen Kultur- (nicht: Kulturgeschichts-)begriffs.36
33 Darüber Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München/Berlin
1936, S. 566ff. Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen
Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. II, München/Salzburg 1951, S. 137ff. Interes-
sant schon die (später getilgten) Bemerkungen Droysens über Kulturgeschichte in
seiner Historik-Vorlesung von 1857, in der Edition von Leyh (wie Anm. 4),
S. 379-382. Boeckh, Guizot und Biedermann sind für ihn die ersten rudimentären
Versuche dieser neuen Disziplin.
34 Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Stuttgart 1952, Bd. I, S. 5. Vgl. Droysen
(wie Anm. 33), S. 379: „Ich gehe mit schwerem Herzen daran, den Namen Kultur-
geschichte zu brauchen. Es ist ein Name von höchst zweifelhaftem wissenschaftli-
chem Wert und von nur zuviel dilettantischem Reiz.“
35 Zitiert bei Kaegi (wie Anm. 9), Bd. VI, S. 158. Auch Datierung von Kaegi (S. 162).
Braudel hat Burckhardt neben Ranke, Michelet und Fustel de Coulanges als einen
der wenigen Historiker des 19. Jahrhunderts bezeichnet, der auf die „longue duree“
geachtet habe. Fernand Braudel, Ecrits sur l’histoire, Paris 1969, S. 47. Das obige
Zitat bestätigt das besonders deutlich.
36 1 8 8 8-1891 fand diese Kontroverse zwischen Dietrich Schäfer und Eberhard Gothein
statt. Gothein sah die politische Geschichte, ähnlich wie Burckhardt, an die Erzäh-
lung von Ereignissen gebunden, während die Kulturgeschichte die wirkenden Kräfte
Ernst Schulin
mehr als sonst in die Nähe der „unpolitischen“ Kultur jenseits von Staat
und Kirche, die von zeitgenössischen Kulturhistorikem wie Riehl,
Freytag und Biedermann bevorzugt dargestellt wurde.33 „Glücklicher-
weise schwankt nicht nur der Begriff Kulturgeschichte, sondern es
schwankt auch die akademische Praxis (und noch einiges andere)“,
erklärte Burckhardt, als er 1872, ein Semester nach der ersten Wieder-
holung der Vorlesung über das Studium der Geschichte, erstmals
„Griechische Kulturgeschichte“ las, und definierte sie nun als Ge-
schichte des Geistes, der Denkweisen und Anschauungen in Mythos,
Staat, Religion, Künsten und Wissenschaften.34 Alle geschichtlichen
Potenzen sind also wieder in sie einbezogen. Zehn Jahre später, 1882,
als er die Vorlesung über die Kultur des Mittelalters wiederaufnahm,
versuchte er eine letzte, vom Geistigen mehr auf die Kontinuitäten ver-
schobene Definition. In Gegenüberstellung zur „erzählenden Ge-
schichte“ bezeichnete er sie als die Betrachtungsweise, in der „auch die
Zustände, das Dauernde“ betont werde, „wir kommen damit auf die
großen herrschenden Kräfte, auf deren Kämpfe und Durcheinander-
wirken, auf die verschiedenen Physiognomien der Welt, die Zeiten, das
Wissenswürdigste der Vergangenheit“.35 Hiernach ließ er sich trotz
seiner großen Autorität als Kulturhistoriker in den einige Jahre später
aufbrechenden Streit über den Vorrang von politischer oder Kultur-
geschichte nicht mehr hineinziehen, vor allem wohl wegen der Proble-
matik eines spezifischen Kultur- (nicht: Kulturgeschichts-)begriffs.36
33 Darüber Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München/Berlin
1936, S. 566ff. Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen
Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. II, München/Salzburg 1951, S. 137ff. Interes-
sant schon die (später getilgten) Bemerkungen Droysens über Kulturgeschichte in
seiner Historik-Vorlesung von 1857, in der Edition von Leyh (wie Anm. 4),
S. 379-382. Boeckh, Guizot und Biedermann sind für ihn die ersten rudimentären
Versuche dieser neuen Disziplin.
34 Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Stuttgart 1952, Bd. I, S. 5. Vgl. Droysen
(wie Anm. 33), S. 379: „Ich gehe mit schwerem Herzen daran, den Namen Kultur-
geschichte zu brauchen. Es ist ein Name von höchst zweifelhaftem wissenschaftli-
chem Wert und von nur zuviel dilettantischem Reiz.“
35 Zitiert bei Kaegi (wie Anm. 9), Bd. VI, S. 158. Auch Datierung von Kaegi (S. 162).
Braudel hat Burckhardt neben Ranke, Michelet und Fustel de Coulanges als einen
der wenigen Historiker des 19. Jahrhunderts bezeichnet, der auf die „longue duree“
geachtet habe. Fernand Braudel, Ecrits sur l’histoire, Paris 1969, S. 47. Das obige
Zitat bestätigt das besonders deutlich.
36 1 8 8 8-1891 fand diese Kontroverse zwischen Dietrich Schäfer und Eberhard Gothein
statt. Gothein sah die politische Geschichte, ähnlich wie Burckhardt, an die Erzäh-
lung von Ereignissen gebunden, während die Kulturgeschichte die wirkenden Kräfte