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Schulin, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1983, 2. Abhandlung): Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre: zu seiner Vorlesung über das Studium der Geschichte (den Weltgeschichtlichen Betrachtungen)$dvorgetragen am 30. April 1983 — Heidelberg: Winter, 1983

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https://doi.org/10.11588/diglit.47810#0029
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Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre

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Wir können also zusammenfassend über die für ihn wesentliche
Betrachtungsweise, die er Kulturgeschichte nannte, sagen: Indem sie
das immer verschiedene, teils stabilisierende, teils gefährdende, zerstö-
rerische Aufeinanderwirken der Potenzen betrachtet, bietet sie das für
Gegenwart und Zukunft Wissenswürdigste aus der Menschheitsge-
schichte. Erhaltenswertes Erbe ist nicht nur die Kunst (wenn auch ihre
Schöpfungen für Burckhardt einen höheren Erhaltungswert haben als
irgendetwas anderes), ist auch nicht allein die Kultur, sondern die
Kulturgeschichte: als Kenntnis und aneignende Reflexion über die
großen geschichtlichen Zusammenhänge. Diese geschichtliche Erin-
nerung an die genügend sicher und umfassend bekannten Zeiten, nicht
unsichere Hypothesen über Ursprung, Weltplan oder Zukunft, fuhrt zu
der Erkenntnis, die, nach Burckhardt, „weise für immer“ macht. Die
Grundkonzeption seiner Kulturgeschichte und die der Potenzen- und
Sturmlehre in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen ist also ein
und dieselbe.
Zu betonen ist dabei, daß für die Vergegenwärtigung des kulturge-
schichtlichen Zusammenhangs einer früheren Zeit genauso wie für die
Vergegenwärtigung und kontinuierliche Erhaltung der kulturellen
Schöpfungen dieser Zeit der zeitliche Abstand, die Vermittlung durch
die zwischen diesem spezifischen Stück Vergangenheit und uns liegen-
de Entwicklung unwesentlich ist. Hier denkt Burckhardt anders als
viele Vertreter des Historismus, für die der geschichtliche Gesamt-
prozeß im Vordergrund steht. Er denkt aber doch ähnlich wie Ranke.
So wie dieser erklärte, jede Epoche stehe unmittelbar zu Gott und der
aufsuche; sie, nicht die Staatengeschichte, sei der einigende Mittelpunkt aller Be-
reiche: „Die Wissenschaften, welche die Geschichte einzelner Kultursysteme -
Religion, Staat, Kunst, Recht, Wirtschaft - behandeln, setzen eine höhere Einheit
voraus, in der sie sich zusammenfinden; sie sind die Glieder eines Organismus, der
konkrete Wirklichkeit besitzt und Kulturgeschichte genannt wird.“ E. Gothein, Die
Aufgaben der Kulturgeschichte, Leipzig 1889, S. 6. Gothein berief sich mehrfach
auf Burckhardt, den er als „größten der Kulturhistoriker“ bezeichnete (S. 38). Dieser
erwiderte auf die Zusendung des Buches aber ziemlich schroff: „Von den ‘Aufgaben
der Culturgeschichte’ bedaure ich mir überhaupt kein systematisches Bild machen
zu können“, und schickte es zurück. Gotheins Vorstellung von der großen, organi-
schen Kultureinheit und von besonderen Aufgaben der Kulturgeschichte dürfte ihn
an den Kulturanspruch seiner Gegenwart erinnert haben, dem er kritisch gegen-
überstand. Ihm kam es bei Kulturgeschichte nur auf „möglichst große Erweiterung
des historischen Horizontes“ an. Burckhardt, Briefe (wie Anm. 7), Bd. IX, S. 196.
E. Gothein, Jakob Burckhardt, in: Preußische Jahrbücher 90, 1897, S. 6. P. Alter,
Eberhard Gothein, in: H.-U. Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. VIII, Göttingen
1982, S. 50.
 
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