Die orientalisierende Epoche
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und schuf denen, die nach ihrer Anweisung opferten, einen Aufschub der Pest
für 10 Jahre14. Im Reinigungsgedicht des Empedokles gewinnt die Wanderschaft
des Sehers eine grundsätzliche, existentielle Dimension: „Verbannter von den
Göttern, ein Umherirrender“, der doch zugleich geradezu als Gott auftreten
kann15.
Jeder, der in dieser Weise das 'mantische und telestische Leben’ wagt, tut dies
auf eigene Rechnung und Gefahr. Es gibt kein Mönchtum, keinen Orden. Und
doch genießen diese Leute nicht nur einen wenigstens in Umrissen vom Her-
kommen anerkannten Status, sie stützen sich auch auf eine feste Filiation der
Lehre. Jeder der wandernden Charismatiker hat seinen 'Vater’, sei es der leibliche
Erzeuger, sei es der Lehrer, der durch die Lehre ihn zu seinem Sohn gemacht,
nicht selten auch formell adoptiert hat. Griechische Seher treten in Familien
auf. Am berühmtesten waren die Melampodiden, denen jener Teisamenos ange-
hörte16, doch geschlechterstolz und durch Jahrhunderte erfolgreich waren auch
die in Olympia beheimateten lamiden17 und die ihnen verbundenen Klytiaden.
Noch anhaltender war der Erfolg der in Eleusis ansässigen Priesterfamilien, der
Eumolpiden und Keryken, die bis zum Verbot der Mysterien durch Theodosius
amteten18; ein Glied der Familie konnte auch zum Wanderer werden und in der
Feme als Spezialist des Heiligen zu Erfolg kommen, wie Timotheos beim ersten
Ptolemäer in Alexandreia19. Aber auch außerhalb der etablierten Geschlechter
sehen wir Familien-Linien sich etablieren. Einige Details liefert die Prozeßrede
'Aiginetikos’ des Isokrates20: Der erfolgreiche Seher Polemainetos - ein reden-
der Name? -, selbst kinderlos, wählte sich als Nachfolger Thrasyllos und ver-
machte ihm seine 'Kunst’, seine Bücher und sein Geld. Thrasyllos „machte Ge-
brauch von der Kunst“, gewann großes Ansehen und ein so großes Vermögen,
daß noch lange nach seinem Tod die Kinder aus verschiedenen Ehen darum
prozessierten; er hatte in eine vornehme Familie auf Siphnos eingeheiratet, und
dies war offenbar das Ende der Sehertradition in dieser Linie. Doch ließ sich
dergleichen notfalls wieder aktivieren: Die Mutter des Aischines, die Demosthenes
als hexenhafte Priesterin von Winkelmysterien karikiert, stammte, wie eine In-
schrift zeigt, aus einer Familie von Sehern in der Tradition des Amphiaraos; Vater
wie Bruder waren praktizierende Seher, und sie trug das ihre bei, die verarmte
14 PL Symp. 201de.
15 Empedokles B 115, 13; Selbstvorstellung als wandernder Seher und Heiler B 112.
16 -> Anm. 8.
17 Pindar 01. 6; Hepding Tamos’ RE IX 685-9; Kett (1966) 84-9.
18 K. Clinton, The Sacred Officials of the Eleusinian Mysteries (1974).
19 Plut. Is. 28, 362a; Tac. Hist. 4, 83f.; A. Alföldi Chiron 9 (1979) 554f. m. Lit.
20 Isokr. 19, 5f.; 45; zur Rechtslage H. J. Wolff Sitzungsber. Heidelberg 1979, 5, 15-34.
Kett (1966) 49f., 66f. der aber übersieht, daß die Sehertätigkeit des Thrasyllos dem Pro-
zeß um etwa 50 Jahre vorausliegen muß.
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und schuf denen, die nach ihrer Anweisung opferten, einen Aufschub der Pest
für 10 Jahre14. Im Reinigungsgedicht des Empedokles gewinnt die Wanderschaft
des Sehers eine grundsätzliche, existentielle Dimension: „Verbannter von den
Göttern, ein Umherirrender“, der doch zugleich geradezu als Gott auftreten
kann15.
Jeder, der in dieser Weise das 'mantische und telestische Leben’ wagt, tut dies
auf eigene Rechnung und Gefahr. Es gibt kein Mönchtum, keinen Orden. Und
doch genießen diese Leute nicht nur einen wenigstens in Umrissen vom Her-
kommen anerkannten Status, sie stützen sich auch auf eine feste Filiation der
Lehre. Jeder der wandernden Charismatiker hat seinen 'Vater’, sei es der leibliche
Erzeuger, sei es der Lehrer, der durch die Lehre ihn zu seinem Sohn gemacht,
nicht selten auch formell adoptiert hat. Griechische Seher treten in Familien
auf. Am berühmtesten waren die Melampodiden, denen jener Teisamenos ange-
hörte16, doch geschlechterstolz und durch Jahrhunderte erfolgreich waren auch
die in Olympia beheimateten lamiden17 und die ihnen verbundenen Klytiaden.
Noch anhaltender war der Erfolg der in Eleusis ansässigen Priesterfamilien, der
Eumolpiden und Keryken, die bis zum Verbot der Mysterien durch Theodosius
amteten18; ein Glied der Familie konnte auch zum Wanderer werden und in der
Feme als Spezialist des Heiligen zu Erfolg kommen, wie Timotheos beim ersten
Ptolemäer in Alexandreia19. Aber auch außerhalb der etablierten Geschlechter
sehen wir Familien-Linien sich etablieren. Einige Details liefert die Prozeßrede
'Aiginetikos’ des Isokrates20: Der erfolgreiche Seher Polemainetos - ein reden-
der Name? -, selbst kinderlos, wählte sich als Nachfolger Thrasyllos und ver-
machte ihm seine 'Kunst’, seine Bücher und sein Geld. Thrasyllos „machte Ge-
brauch von der Kunst“, gewann großes Ansehen und ein so großes Vermögen,
daß noch lange nach seinem Tod die Kinder aus verschiedenen Ehen darum
prozessierten; er hatte in eine vornehme Familie auf Siphnos eingeheiratet, und
dies war offenbar das Ende der Sehertradition in dieser Linie. Doch ließ sich
dergleichen notfalls wieder aktivieren: Die Mutter des Aischines, die Demosthenes
als hexenhafte Priesterin von Winkelmysterien karikiert, stammte, wie eine In-
schrift zeigt, aus einer Familie von Sehern in der Tradition des Amphiaraos; Vater
wie Bruder waren praktizierende Seher, und sie trug das ihre bei, die verarmte
14 PL Symp. 201de.
15 Empedokles B 115, 13; Selbstvorstellung als wandernder Seher und Heiler B 112.
16 -> Anm. 8.
17 Pindar 01. 6; Hepding Tamos’ RE IX 685-9; Kett (1966) 84-9.
18 K. Clinton, The Sacred Officials of the Eleusinian Mysteries (1974).
19 Plut. Is. 28, 362a; Tac. Hist. 4, 83f.; A. Alföldi Chiron 9 (1979) 554f. m. Lit.
20 Isokr. 19, 5f.; 45; zur Rechtslage H. J. Wolff Sitzungsber. Heidelberg 1979, 5, 15-34.
Kett (1966) 49f., 66f. der aber übersieht, daß die Sehertätigkeit des Thrasyllos dem Pro-
zeß um etwa 50 Jahre vorausliegen muß.