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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0081
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Die orientalisierende Epoche

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auch nicht vollzogen sein, es läßt sich offenbar wiederholen. Ferner: mit selt-
samer Willkür kann der Priester einen Preis festsetzen oder auch nicht; gerade
in diesem Fall treten Opfer für alle Zeiten ein, während im anderen Fall das
vermutete Mordopfer offenbar ein für alle Male abgefunden wird. Vor allem:
wenn in späteren Generationen ein Problem auftritt, soll erst 'ein Priester fest-
legen’ und anschließend noch ein Orakel die Opfer bestimmen? Ganz anders
und weitaus klarer sind die Weisungen unter der anderen Annahme, daß wiederum
ein mächtiger Dämon sich 'äußert’, sei es im Traum, sei es in visuellen oder audi-
tiven Erscheinungen; dann gibt es einen Kult κατ’ έπιταγήν, wie dies Weihin-
schriften so oft ausdrücken. Προφέρεσθαι gewinnt dann seine wohlbezeugte Be-
deutung 'vorhalten, sich beschweren’ zurück: es heißt so viel wie 'ein μήνιμα zur
Sprache bringen’, nahe auch dem Terminus έπισμημαίνειν. Fehlt die genaue Äuße-
rung, hat der Dämon nur sprachlosen Schrecken verbreitet, tritt die übliche Form
der 'besänftigenden’ Totenopfer ein, 'Früchte der Erde’ und Totenspenden. 'Kind’
und Kindeskind sind betroffen, insofern Totenkult eben ein Ahnenkult ist. So kann
ein vergessener Ahn seine 'Beschwerde äußern’: „ein Totengeist meiner Familie
hat mich gepackt“. Gegebenenfalls erfragt man vom Orakel die rechten Opfer.
Sie gelten dem Familiengott, wenn man ihn kennt - „sie opfern dem Zeus Kariös“,
weiß Herodot von der Familie des Isagoras in Athen40 -; andernfalls wird auch
dies das Orakel festlegen. So fügt sich alles zusammen. Τελίσκεσθαι bedeutet
dann die rituelle 'Weihe’ durch Errichtung eines Kultes. Daß das δαμόσιον ίαρόν
in spezieller Weise mit Heroenkult behaftet war, ist eine naheliegende Zusatz-
annahme.
Im dritten Fall handelt es sich um einen 'Mörder’ oder 'Selbstmörder’, αύτο-
φόνος41. Hier wird dem 'Eindringen’ dessen, der 'ankommt’, mit einem Gegenritus
des άφικετεύειν begegnet. Schon dies zeigt klar, daß man hier nicht einen 'Schutz-
flehenden’ in die Gemeinschaft aufnimmt, sondern vielmehr jemanden oder etwas
loswerden möchte. Der Text ist jedoch lückenhaft und läßt sich nicht sicher er-
gänzen. Der Betroffene hat das Ritual anzukündigen, er soll auf der Schwelle
in weißen Kleidern, gesalbt, auf einem Vlies Platz nehmen lassen42; dann zieht
er mit Begleitern auf der öffentlichen Straße, während alle Begegnenden schwei-
gen, bis - hier ist eine Lücke; lesbar ist noch, daß Opfer und anderes’ statt-
finden. Ginge es um die Entsühnung eines Mordbefleckten, wäre ein abschließen-
der Akt der Integration, der Einführung in die Heiligtümer der Stadt etwa, an-
zunehmen; dementsprechend hat man ergänzt. Der erhaltene Text aber spricht nur
40 Hdt. 5, 66,1.
41 Mit Recht notiert das Supplement zu LSJ z.d.St.: „dub. sense“. Das Wort kommt sonst
nur in der Poesie vor; mit 'selbstmörderischem’ Sinn: Opp. Cyn. 2, 480.
42 ϊσσαντα Z. 52 in Opposition zu ίσσάμενος Z. 40f. ist doch wohl transitiv zu nehmen;
daher das Argument, der Betroffene sei 'palpably human’ (Anm. 37). Sollte es sich um
die Leiche des Selbstmörders handeln?
 
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