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Eberhard Jüngel
immer schon eingeholt hat. Die Frage nach der Wahrheit - gemeint ist
jetzt immer die Wahrheit im Sinne der zur Existenz gehörenden, aber
von ihr verstellten Erschlossenheit, nicht die Wahrheit von Sätzen über
erschlossene Sachverhalte - ist deshalb, auch wenn sie mit der Frage,
wie ich mich selbst verstehe, identifiziert werden dürfte, nicht auf die
Frage reduzierbar, wie ich den Augenblick verstehe. Eine solche
Reduktion darf schon deshalb nicht zugestanden werden, weil sonst die
Möglichkeit rechten Verstehens, die der Augenblick gewährt, gar nicht
kritisch gegen die Wirklichkeit z.B. der Überlieferung geltend gemacht
werden könnte. Ist nur der geschichtliche Augenblick und nicht auch
die Wirklichkeit der Geschichte wahrheitsfähig, dann kann es auch
keine Auseinandersetzung mit der Geschichte im Zeichen der Frage
nach der Wahrheit geben. Die Frage nach der Wahrheit, wenn sie denn
die Frage nach der Erschlossenheitvcra Mensch und Welt sein soll, fragt
vielmehr - aufgrund der in jedem Augenblick möglichen und in eini-
gen Augenblicken wirklich geschehenden Unterbrechung des Wirklich-
keitszusammenhanges der Welt, aber aufgrund dieses Augenblickes
nun doch über diesen hinaus - nach der Wahrheit der Wirklichkeit im
Ganzen und also auch nach der Wahrheit des Zusammenhangs des
Augenblicks mit der Vergangenheit, aus deren Wirklichkeit er sich her-
bedingt, und mit der Zukunft, deren Möglichkeiten er vor sich hat. Die
Rede von der Geschichtlichkeit des Augenblicks ist nur sinnvoll im
Horizont einer Geschichte, die mehr ist als die Summe aller geschicht-
lichen Augenblicke.
2. Dem entspricht, daß auch das den Augenblick qualifizierende
Wort, sofern es das Kerygma von Jesus Christus ist, nicht nur das bloße
Daß eines Augenblicks - wie Bultmann meinte - als durch Gottes Han-
deln qualifizierte Wirklichkeit verkündigt248, sondern die Geschichte
Jesu von Nazareth als die Geschichte Christi, die Geschichte dieses Men-
schen als die Geschichte des Sohnes Gottes erzählt. Die Evangelien
kennen die Zeit, die sich Gott für den Menschen nimmt, nicht nur als
die Zeit eines Augenblicks, sondern als die Zeit einer Geschichte. Bult-
mann hat zumindest einmal selber die Angewiesenheit des Verstehens
darauf, daß „die Verkündigung ... etwas erzählt“, hervorgehoben und
die Möglichkeit zu solcher mehr als nur die Wahrheit des Augenblicks
zur Sprache bringenden Erzählung damit begründet, „daß Jesus Chri-
stus die Wende der Äonen ist, daß durch ein geschichtliches Faktum
248 Vgl. dazu G. Ebeling, Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bult-
mann, HUTh 1, 21963, 115f.
Eberhard Jüngel
immer schon eingeholt hat. Die Frage nach der Wahrheit - gemeint ist
jetzt immer die Wahrheit im Sinne der zur Existenz gehörenden, aber
von ihr verstellten Erschlossenheit, nicht die Wahrheit von Sätzen über
erschlossene Sachverhalte - ist deshalb, auch wenn sie mit der Frage,
wie ich mich selbst verstehe, identifiziert werden dürfte, nicht auf die
Frage reduzierbar, wie ich den Augenblick verstehe. Eine solche
Reduktion darf schon deshalb nicht zugestanden werden, weil sonst die
Möglichkeit rechten Verstehens, die der Augenblick gewährt, gar nicht
kritisch gegen die Wirklichkeit z.B. der Überlieferung geltend gemacht
werden könnte. Ist nur der geschichtliche Augenblick und nicht auch
die Wirklichkeit der Geschichte wahrheitsfähig, dann kann es auch
keine Auseinandersetzung mit der Geschichte im Zeichen der Frage
nach der Wahrheit geben. Die Frage nach der Wahrheit, wenn sie denn
die Frage nach der Erschlossenheitvcra Mensch und Welt sein soll, fragt
vielmehr - aufgrund der in jedem Augenblick möglichen und in eini-
gen Augenblicken wirklich geschehenden Unterbrechung des Wirklich-
keitszusammenhanges der Welt, aber aufgrund dieses Augenblickes
nun doch über diesen hinaus - nach der Wahrheit der Wirklichkeit im
Ganzen und also auch nach der Wahrheit des Zusammenhangs des
Augenblicks mit der Vergangenheit, aus deren Wirklichkeit er sich her-
bedingt, und mit der Zukunft, deren Möglichkeiten er vor sich hat. Die
Rede von der Geschichtlichkeit des Augenblicks ist nur sinnvoll im
Horizont einer Geschichte, die mehr ist als die Summe aller geschicht-
lichen Augenblicke.
2. Dem entspricht, daß auch das den Augenblick qualifizierende
Wort, sofern es das Kerygma von Jesus Christus ist, nicht nur das bloße
Daß eines Augenblicks - wie Bultmann meinte - als durch Gottes Han-
deln qualifizierte Wirklichkeit verkündigt248, sondern die Geschichte
Jesu von Nazareth als die Geschichte Christi, die Geschichte dieses Men-
schen als die Geschichte des Sohnes Gottes erzählt. Die Evangelien
kennen die Zeit, die sich Gott für den Menschen nimmt, nicht nur als
die Zeit eines Augenblicks, sondern als die Zeit einer Geschichte. Bult-
mann hat zumindest einmal selber die Angewiesenheit des Verstehens
darauf, daß „die Verkündigung ... etwas erzählt“, hervorgehoben und
die Möglichkeit zu solcher mehr als nur die Wahrheit des Augenblicks
zur Sprache bringenden Erzählung damit begründet, „daß Jesus Chri-
stus die Wende der Äonen ist, daß durch ein geschichtliches Faktum
248 Vgl. dazu G. Ebeling, Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bult-
mann, HUTh 1, 21963, 115f.