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Eberhard Jüngel
Selbstverständnis des Glaubens als eines Angesprochenseins im Recht
ist, so bedenklich erscheint doch die Beschränkung des Anredecharak-
ters der Sprache auf den Entscheidung fordernden Augenblick. Die
neutestamentlichen Texte lassen demgegenüber erkennen, daß die
Entscheidung, bevor sie gefordert wird, durch die indikativische Erzäh-
lung der Geschichte Jesu Christi (und der sie implizierenden
Geschichten) allererst ermöglicht, und zwar so ermöglicht wird, daß
sich die rechte Entscheidung daraufhin in der Regel von selbst versteht.
So wollen Jesu Gleichnisse von der Gottesherrschaft den Hörer ge-
radezu auf ihre Pointe hin sammeln, so daß man schon „verstockt“ sein
muß, wenn man am Ende nicht versteht und bejaht, worauf man im
Gleichnis angesprochen wird. Gerade der Indikativ spricht an. Er
spricht sehr viel intensiver an, als der Appell zur Entscheidung es ver-
mag. Bultmann hat diese kerygmatische Eigenart der neutestament-
lichen Sprache nur unzureichend zur Geltung gebracht, wie vor allem
seine Auslegungen der Gleichnisse Jesu erkennen lassen. Er weiß zwar
prinzipiell treffend zu unterscheiden: „Die Verkündigung redet im
Indikativ; der Appell im Imperativ, auch wenn er indikativisch formu-
liert ist“252. Und er hat dem Verhältnis von Indikativ und Imperativ in
der paulinischen Theologie sogar besondere Aufmerksamkeit gewid-
met. Aber seine Erkenntnisse bleiben merkwürdig abstrakt. Sie wer-
den für die Verstehensproblematik selber nicht eigentlich fruchtbar
gemacht. Und insofern rückt der Verstehensvorgang selbst fast ganz in
den Horizont des Gesetzes, statt daß Bultmann auch für ihn die dem
Evangelium eigene Bewegung der Ermöglichung des Geforderten zur
Geltung bringt. Damit mag es Zusammenhängen, daß Bultmann das
Moment des Gehorsams im Glaubensbegriff überbetont, statt auch in
hermeneutischer Hinsicht fruchtbar zu machen, daß das Verstehen des
Glaubens in einem Sich-von-Gott-verstanden-Wissen begründet ist253.
4. Eine weitere kritische Bemerkung soll Bultmanns Identifikation
des Daseins des Menschen mit dessen Tat gelten. Bultmann weiß sich
252 R. Bultmann, Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung. 1957, in: Glau-
ben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, 31965, 166-176, 173.
253 Vgl. zum Problem die verständnisvolle Kritik Bultmanns durch G. M. Martin, Vom
Unglauben zum Glauben. Zur Theologie der Entscheidung bei Rudolf Bultmann,
ThSt 118,1976,60f.: „Eine Theologie der Entscheidung müsste zeigen, dass das her-
ausfordernde und einladende Kerygma“ dem von ihm Angesprochenen nicht die
Zeit nimmt, sondern ihm, indem es ihm indikativisch Geschichte erzählt, „Zeit
lässt, und wie der allerdings autoritativ, wiewohl nicht autoritär Angesprochene den
Weg zur Entscheidung hin in freiem Gehorsam mitgehen kann“.
Eberhard Jüngel
Selbstverständnis des Glaubens als eines Angesprochenseins im Recht
ist, so bedenklich erscheint doch die Beschränkung des Anredecharak-
ters der Sprache auf den Entscheidung fordernden Augenblick. Die
neutestamentlichen Texte lassen demgegenüber erkennen, daß die
Entscheidung, bevor sie gefordert wird, durch die indikativische Erzäh-
lung der Geschichte Jesu Christi (und der sie implizierenden
Geschichten) allererst ermöglicht, und zwar so ermöglicht wird, daß
sich die rechte Entscheidung daraufhin in der Regel von selbst versteht.
So wollen Jesu Gleichnisse von der Gottesherrschaft den Hörer ge-
radezu auf ihre Pointe hin sammeln, so daß man schon „verstockt“ sein
muß, wenn man am Ende nicht versteht und bejaht, worauf man im
Gleichnis angesprochen wird. Gerade der Indikativ spricht an. Er
spricht sehr viel intensiver an, als der Appell zur Entscheidung es ver-
mag. Bultmann hat diese kerygmatische Eigenart der neutestament-
lichen Sprache nur unzureichend zur Geltung gebracht, wie vor allem
seine Auslegungen der Gleichnisse Jesu erkennen lassen. Er weiß zwar
prinzipiell treffend zu unterscheiden: „Die Verkündigung redet im
Indikativ; der Appell im Imperativ, auch wenn er indikativisch formu-
liert ist“252. Und er hat dem Verhältnis von Indikativ und Imperativ in
der paulinischen Theologie sogar besondere Aufmerksamkeit gewid-
met. Aber seine Erkenntnisse bleiben merkwürdig abstrakt. Sie wer-
den für die Verstehensproblematik selber nicht eigentlich fruchtbar
gemacht. Und insofern rückt der Verstehensvorgang selbst fast ganz in
den Horizont des Gesetzes, statt daß Bultmann auch für ihn die dem
Evangelium eigene Bewegung der Ermöglichung des Geforderten zur
Geltung bringt. Damit mag es Zusammenhängen, daß Bultmann das
Moment des Gehorsams im Glaubensbegriff überbetont, statt auch in
hermeneutischer Hinsicht fruchtbar zu machen, daß das Verstehen des
Glaubens in einem Sich-von-Gott-verstanden-Wissen begründet ist253.
4. Eine weitere kritische Bemerkung soll Bultmanns Identifikation
des Daseins des Menschen mit dessen Tat gelten. Bultmann weiß sich
252 R. Bultmann, Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung. 1957, in: Glau-
ben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, 31965, 166-176, 173.
253 Vgl. zum Problem die verständnisvolle Kritik Bultmanns durch G. M. Martin, Vom
Unglauben zum Glauben. Zur Theologie der Entscheidung bei Rudolf Bultmann,
ThSt 118,1976,60f.: „Eine Theologie der Entscheidung müsste zeigen, dass das her-
ausfordernde und einladende Kerygma“ dem von ihm Angesprochenen nicht die
Zeit nimmt, sondern ihm, indem es ihm indikativisch Geschichte erzählt, „Zeit
lässt, und wie der allerdings autoritativ, wiewohl nicht autoritär Angesprochene den
Weg zur Entscheidung hin in freiem Gehorsam mitgehen kann“.