Klio in Moskau
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Indessen besteht hier kein Anlaß, bei der sowjetischen Kliometrie
ausgiebiger zu verharren. Zu berichten ist nicht von diesem wichtigen
Spezialgebiet, sondern von allgemeineren, konventionelleren Objek-
ten: von der sowjetischen Geschichtswissenschaft in umfassenderem
Sinn, konzentriert auf den Bereich, der die eigene, die sowjetische
Geschichte betrifft, die Geschichte der Union der Sozialistischen So-
wjetrepubliken. Dieser Arbeitsbereich ist nicht klein. Nur schätzungs-
weise zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent der in der Forschung tätigen
sowjetischen Historiker beschäftigen sich nicht damit, sondern mit der
Geschichte der außersowjetischen Welt.5
Zu Anfang ist es angebracht, einige Begriffe zu klären. Dabei gilt es
zu verstehen, daß „Geschichte der Sowjetunion“, Istorija SSSR, im
sowjetischen Sprachgebrauch keineswegs identisch ist mit der
Geschichte des bolschewistischen Rußland seit 1917, seit der „Großen
Sozialistischen Oktoberrevolution“. Geschichte der Sowjetunion
meint auch nicht etwa nur die Geschichte der Sowjetunion, seit es die
gibt, also seit Dezember 1922. Die Wortverbindung hat mehr Sinn, in
räumlicher und zeitlicher Hinsicht erheblich mehr. Sie umfängt die
Geschichte aller Völker und Bevölkerungen, die je auf dem heutigen
Territorium der Sowjetunion lebten, und sie reicht (so lautet die for-
melhafte Titelei der einschlägigen Gesamtdarstellungen) „von den
ältesten Zeiten bis auf unsere Tage“: s drevnejsich vremen do nasich
dnej.6
EVM v istoriceskich issledovanijach, in: Voprosy istorii 1984/9, S. 61-73. Zur
Kooperation der sowjetischen und amerikanischen „Kliometriker“ vgl. die Beiträge
zu zwei gemeinsamen Konferenzen in Baltimore (1979) und Tallinn (1981): Koli-
cestvennye metody v sovetskoj i amerikanskoj istoriografii. Materialy, Moskau 1983,
ferner Juhan Kahk, Peasant and Lord in the Process of Transition from Feudalism to
Capitalism in the Baitics. An Attempt of Interdisciplinary History, Tallinn 1982. -
Eine Auswahl einschlägiger sowjetischer Arbeiten hat Don Karl Rowney ediert:
Soviet Quantitative History, Beverly Hills, Calif. 1983.
5 Ältere monographische Untersuchungen zur Entwicklung der sowjetischen
Geschichtswissenschaft mit ausgiebigen Nachweisen: Konstantin F. Shteppa, Rus-
sian Historians and the Soviet State, New Brunswick 1962; Kurt Marko, Sowjethisto-
riker zwischen Ideologie und Wissenschaft. Aspekte der sowjetischen Wissen-
schaftspolitik seit Stalins Tod, Köln 1964; Lowell Tillett, The Great Friendship.
Soviet Historians on the Non-Russian Nationalities, Chapel Hill 1969; Nancy Whit-
tier Herr, Politics and History in the Soviet Union, Cambridge, Mass. 1971.
6 Vgl. die letzte, auf zwölf Bände angelegte Akademieausgabe der Geschichte der
UdSSR: Istorija SSSRs drevnejsich vremen do nasich dnej. Bd. 1-11, Moskau 1966-
1980.
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Indessen besteht hier kein Anlaß, bei der sowjetischen Kliometrie
ausgiebiger zu verharren. Zu berichten ist nicht von diesem wichtigen
Spezialgebiet, sondern von allgemeineren, konventionelleren Objek-
ten: von der sowjetischen Geschichtswissenschaft in umfassenderem
Sinn, konzentriert auf den Bereich, der die eigene, die sowjetische
Geschichte betrifft, die Geschichte der Union der Sozialistischen So-
wjetrepubliken. Dieser Arbeitsbereich ist nicht klein. Nur schätzungs-
weise zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent der in der Forschung tätigen
sowjetischen Historiker beschäftigen sich nicht damit, sondern mit der
Geschichte der außersowjetischen Welt.5
Zu Anfang ist es angebracht, einige Begriffe zu klären. Dabei gilt es
zu verstehen, daß „Geschichte der Sowjetunion“, Istorija SSSR, im
sowjetischen Sprachgebrauch keineswegs identisch ist mit der
Geschichte des bolschewistischen Rußland seit 1917, seit der „Großen
Sozialistischen Oktoberrevolution“. Geschichte der Sowjetunion
meint auch nicht etwa nur die Geschichte der Sowjetunion, seit es die
gibt, also seit Dezember 1922. Die Wortverbindung hat mehr Sinn, in
räumlicher und zeitlicher Hinsicht erheblich mehr. Sie umfängt die
Geschichte aller Völker und Bevölkerungen, die je auf dem heutigen
Territorium der Sowjetunion lebten, und sie reicht (so lautet die for-
melhafte Titelei der einschlägigen Gesamtdarstellungen) „von den
ältesten Zeiten bis auf unsere Tage“: s drevnejsich vremen do nasich
dnej.6
EVM v istoriceskich issledovanijach, in: Voprosy istorii 1984/9, S. 61-73. Zur
Kooperation der sowjetischen und amerikanischen „Kliometriker“ vgl. die Beiträge
zu zwei gemeinsamen Konferenzen in Baltimore (1979) und Tallinn (1981): Koli-
cestvennye metody v sovetskoj i amerikanskoj istoriografii. Materialy, Moskau 1983,
ferner Juhan Kahk, Peasant and Lord in the Process of Transition from Feudalism to
Capitalism in the Baitics. An Attempt of Interdisciplinary History, Tallinn 1982. -
Eine Auswahl einschlägiger sowjetischer Arbeiten hat Don Karl Rowney ediert:
Soviet Quantitative History, Beverly Hills, Calif. 1983.
5 Ältere monographische Untersuchungen zur Entwicklung der sowjetischen
Geschichtswissenschaft mit ausgiebigen Nachweisen: Konstantin F. Shteppa, Rus-
sian Historians and the Soviet State, New Brunswick 1962; Kurt Marko, Sowjethisto-
riker zwischen Ideologie und Wissenschaft. Aspekte der sowjetischen Wissen-
schaftspolitik seit Stalins Tod, Köln 1964; Lowell Tillett, The Great Friendship.
Soviet Historians on the Non-Russian Nationalities, Chapel Hill 1969; Nancy Whit-
tier Herr, Politics and History in the Soviet Union, Cambridge, Mass. 1971.
6 Vgl. die letzte, auf zwölf Bände angelegte Akademieausgabe der Geschichte der
UdSSR: Istorija SSSRs drevnejsich vremen do nasich dnej. Bd. 1-11, Moskau 1966-
1980.