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Dietrich Geyer
vor allem für weite Gebiete der vorsowjetischen Zeit. Aus dem Mate-
rial der Obersten Attestationskommission in Moskau geht hervor, daß
zwischen 1975 und 1979 in der gesamten Sowjetunion 783 Kandida-
tendissertationen zur Vaterländischen Geschichte vorgelegt worden
sind, nur 136 (17.4%) hatten Themen aus der Zeit vor 1917 zum
Gegenstand.69 Manches spricht für die Vermutung, daß sich der Nach-
wuchs „an der historischen Front“ vor allem mit Arbeiten zur sowjeti-
schen Periode zu bewähren habe. Auch Aspiranturen, d.h. bezahlte
Doktorandenstellen, scheinen für zeitgeschichtliche Themen leichter
verfügbar zu sein als für Themen der vorrevolutionären Zeit. Nicht
genau zu ermitteln ist, ob der Sog der gegenwartsbezogenen
Geschichte in jüngerer Zeit noch weiter zugenommen hat. Hält man
sich an die Habilitationsarbeiten, deren Autoren in der Regel älter als
vierzig Jahre sind, dann könnte man diese Annahme bestätigt finden.
Immerhin hatten sich zwischen 1975 und 1979 42.9 Prozent aller er-
folgreichen Habilitanden der Geschichte des vorrevolutionären Vater-
landes zugewandt.
Tatsächlich steht in den Grundsatzerklärungen, Rechenschaftsbe-
richten und Planungsansätzen die Forderung nach Aktualität allem
anderen voran. Von den Historikern wird gesellschaftliche Relevanz
verlangt, Konzentration auf das wirklich Wesentliche. Dabei gilt als
ausgemacht, was das Wesentlichste in der Geschichte sei: es sind die
„kardinalen Probleme“, die „die gegenwärtige Etappe des gesellschaft-
lichen Fortschritts“ stelle. Insofern ist vor allem der Zeitgeschichte
Priorität zu geben, der Geschichte der Sowjetgesellschaft auf der Stufe
des „entwickelten“, des „reifen Sozialismus“.70 Ähnlich aktuell ist die
Erforschung der „Blüte und Bereicherung der nationalen Kulturen“,
69 In den Angaben sind die Promotionen und Habilitationen zur Geschichte der
KPdSU nicht enthalten. Über die Annahme dieser Arbeiten entscheidet nicht die
Attestationskommission, sondern das „Präsidium des Allunionsrates für die Koordi-
nation wissenschaftlicher Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Parteigeschichte
und des Parteiaufbaus“; dazu regelmäßige Berichte in der vom Institut für Marxis-
mus-Leninismus beim ZK der KPdSU herausgegebenen parteigeschichtlichen
Monatszeitschrift „Voprosy istorii KPSS“. Hier kommt die Sonderstellung der Par-
teigeschichte im System der sowjetischen Geschichtswissenschaften zum Aus-
druck. An den Historischen Fakultäten der Universitäten bestehen gesonderte
Lehrstühle (kafedry) für Geschichte der KPdSU.
70 Zur Aktualitätsforderung siehe die in Anm. 7 genannten Rechenschaftsberichte,
sowie den Grundsatzartikel von Tichvinskij (Anm. 53). - Das Konzept des „entwik-
kelten Sozialismus“ als historisches Problem behandelt V. P. Dmitrenko, Stanovle-
nie koncepcii razvitogo socializma, v SSSR, in: Voprosy istorii 1984/8, S. 3-22.
Dietrich Geyer
vor allem für weite Gebiete der vorsowjetischen Zeit. Aus dem Mate-
rial der Obersten Attestationskommission in Moskau geht hervor, daß
zwischen 1975 und 1979 in der gesamten Sowjetunion 783 Kandida-
tendissertationen zur Vaterländischen Geschichte vorgelegt worden
sind, nur 136 (17.4%) hatten Themen aus der Zeit vor 1917 zum
Gegenstand.69 Manches spricht für die Vermutung, daß sich der Nach-
wuchs „an der historischen Front“ vor allem mit Arbeiten zur sowjeti-
schen Periode zu bewähren habe. Auch Aspiranturen, d.h. bezahlte
Doktorandenstellen, scheinen für zeitgeschichtliche Themen leichter
verfügbar zu sein als für Themen der vorrevolutionären Zeit. Nicht
genau zu ermitteln ist, ob der Sog der gegenwartsbezogenen
Geschichte in jüngerer Zeit noch weiter zugenommen hat. Hält man
sich an die Habilitationsarbeiten, deren Autoren in der Regel älter als
vierzig Jahre sind, dann könnte man diese Annahme bestätigt finden.
Immerhin hatten sich zwischen 1975 und 1979 42.9 Prozent aller er-
folgreichen Habilitanden der Geschichte des vorrevolutionären Vater-
landes zugewandt.
Tatsächlich steht in den Grundsatzerklärungen, Rechenschaftsbe-
richten und Planungsansätzen die Forderung nach Aktualität allem
anderen voran. Von den Historikern wird gesellschaftliche Relevanz
verlangt, Konzentration auf das wirklich Wesentliche. Dabei gilt als
ausgemacht, was das Wesentlichste in der Geschichte sei: es sind die
„kardinalen Probleme“, die „die gegenwärtige Etappe des gesellschaft-
lichen Fortschritts“ stelle. Insofern ist vor allem der Zeitgeschichte
Priorität zu geben, der Geschichte der Sowjetgesellschaft auf der Stufe
des „entwickelten“, des „reifen Sozialismus“.70 Ähnlich aktuell ist die
Erforschung der „Blüte und Bereicherung der nationalen Kulturen“,
69 In den Angaben sind die Promotionen und Habilitationen zur Geschichte der
KPdSU nicht enthalten. Über die Annahme dieser Arbeiten entscheidet nicht die
Attestationskommission, sondern das „Präsidium des Allunionsrates für die Koordi-
nation wissenschaftlicher Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Parteigeschichte
und des Parteiaufbaus“; dazu regelmäßige Berichte in der vom Institut für Marxis-
mus-Leninismus beim ZK der KPdSU herausgegebenen parteigeschichtlichen
Monatszeitschrift „Voprosy istorii KPSS“. Hier kommt die Sonderstellung der Par-
teigeschichte im System der sowjetischen Geschichtswissenschaften zum Aus-
druck. An den Historischen Fakultäten der Universitäten bestehen gesonderte
Lehrstühle (kafedry) für Geschichte der KPdSU.
70 Zur Aktualitätsforderung siehe die in Anm. 7 genannten Rechenschaftsberichte,
sowie den Grundsatzartikel von Tichvinskij (Anm. 53). - Das Konzept des „entwik-
kelten Sozialismus“ als historisches Problem behandelt V. P. Dmitrenko, Stanovle-
nie koncepcii razvitogo socializma, v SSSR, in: Voprosy istorii 1984/8, S. 3-22.