Klio in Moskau
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müßig, von Bürobeschlüssen der Moskauer Geschichtsabteilung neue
belebende Anstöße zu erwarten. Wahrscheinlicher als ein frischer
Luftzug, der die Köpfe freier machen könnte, dürfte die Fortdauer
angestrengter Routine sein.
Geschichtsverständnis und Traditionsbewußtsein
Auch der dritte und letzte Abschnitt dieses Berichts gilt der Vater-
ländischen Geschichte. Zu fragen ist - mit gedrosselter Erwartung -
nach Geschichtsverständnis und Traditionsbewußtsein in der Sowjet-
union, nach dem „Interesse an der Geschichte“ jenseits aller professio-
nellen Bemühung.82 Es geht um das Verhältnis der Bevölkerung oder
doch einzelner Schichten und Gruppen zur Vergangenheit des sowjeti-
schen Vaterlandes. Soziologisch differenzierte Auskünfte, die solche
Einstellungen und Gefühlslagen präzisieren würden, dürfen dabei
nicht erwartet werden. Systematische Befragungen in der UdSSR zu so
empfindlichen Themen sind unstatthaft.83 Was vermittelt werden
kann, beschränkt sich deshalb auf Beobachtungen und bruchstück-
hafte Informationen. Die aber fügen sich zu übergreifenden Befunden,
zumal zu solchen, die ohne Widersprüche wären, nur selten zusam-
men. Globale Aussagen helfen kaum voran, obschon nach Lage der
Dinge ohne sie nicht immer auszukommen ist.
Diese Verlegenheit erklärt, weshalb auch hier nur Eindrücke allge-
meinster Art am Anfang stehen. Zu ihnen gehört die verbreitete
Ansicht, daß das Geschichts- und Traditionsbewußtsein in der Sowjet-
union vergleichsweise stark entwickelt sei. Tatsächlich hat der Satz
längst keine Geltung mehr, wonach Rußland mit der bolschewisti-
schen Revolution von 1917 „Abschied von der bisherigen Geschichte“
genommen habe. Im Gegenteil: das Bekenntnis zur Vergangenheit ist
ungebrochen. Auch war in der UdSSR, anders als bei uns, von „Verlust
der Geschichte“ oder „Kapitulation vor der Geschichte“ nie die Rede.84
82 Reinhard Wittram, Das Interesse an der Geschichte. Zwölf Vorlesungen über Fra-
gen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses, Göttingen 1958.
83 Zum Problem von Befragungen in der UdSSR: Victor Zaslavsky, In geschlossener
Gesellschaft. Gleichgewicht und Widerspruch im sowjetischen Alltag, Berlin/West
1982, S. 28-45.
84 Alfred Weber, Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilis-
mus? Hamburg 1946; Hermann Heimpel, Kapitulation vor der Geschichte? Gedan-
ken zur Zeit, Göttingen 1960, Alfred Heuß, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959.
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müßig, von Bürobeschlüssen der Moskauer Geschichtsabteilung neue
belebende Anstöße zu erwarten. Wahrscheinlicher als ein frischer
Luftzug, der die Köpfe freier machen könnte, dürfte die Fortdauer
angestrengter Routine sein.
Geschichtsverständnis und Traditionsbewußtsein
Auch der dritte und letzte Abschnitt dieses Berichts gilt der Vater-
ländischen Geschichte. Zu fragen ist - mit gedrosselter Erwartung -
nach Geschichtsverständnis und Traditionsbewußtsein in der Sowjet-
union, nach dem „Interesse an der Geschichte“ jenseits aller professio-
nellen Bemühung.82 Es geht um das Verhältnis der Bevölkerung oder
doch einzelner Schichten und Gruppen zur Vergangenheit des sowjeti-
schen Vaterlandes. Soziologisch differenzierte Auskünfte, die solche
Einstellungen und Gefühlslagen präzisieren würden, dürfen dabei
nicht erwartet werden. Systematische Befragungen in der UdSSR zu so
empfindlichen Themen sind unstatthaft.83 Was vermittelt werden
kann, beschränkt sich deshalb auf Beobachtungen und bruchstück-
hafte Informationen. Die aber fügen sich zu übergreifenden Befunden,
zumal zu solchen, die ohne Widersprüche wären, nur selten zusam-
men. Globale Aussagen helfen kaum voran, obschon nach Lage der
Dinge ohne sie nicht immer auszukommen ist.
Diese Verlegenheit erklärt, weshalb auch hier nur Eindrücke allge-
meinster Art am Anfang stehen. Zu ihnen gehört die verbreitete
Ansicht, daß das Geschichts- und Traditionsbewußtsein in der Sowjet-
union vergleichsweise stark entwickelt sei. Tatsächlich hat der Satz
längst keine Geltung mehr, wonach Rußland mit der bolschewisti-
schen Revolution von 1917 „Abschied von der bisherigen Geschichte“
genommen habe. Im Gegenteil: das Bekenntnis zur Vergangenheit ist
ungebrochen. Auch war in der UdSSR, anders als bei uns, von „Verlust
der Geschichte“ oder „Kapitulation vor der Geschichte“ nie die Rede.84
82 Reinhard Wittram, Das Interesse an der Geschichte. Zwölf Vorlesungen über Fra-
gen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses, Göttingen 1958.
83 Zum Problem von Befragungen in der UdSSR: Victor Zaslavsky, In geschlossener
Gesellschaft. Gleichgewicht und Widerspruch im sowjetischen Alltag, Berlin/West
1982, S. 28-45.
84 Alfred Weber, Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilis-
mus? Hamburg 1946; Hermann Heimpel, Kapitulation vor der Geschichte? Gedan-
ken zur Zeit, Göttingen 1960, Alfred Heuß, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959.