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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0047
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Die Epochenschwelle von 1912

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dans l’allégresse universelle“64, post festum illusionär, ja nahezu
gespenstisch erscheinen. Das Zitat stammt aus dem Programm von
Parade (1917), einem Stück des Choreographen Massine, des Malers
Picasso und des Musikers Satie, das zum ersten Mal eine „alliance de la
peinture et de la danse, de la plastique et de la mimique“, mithin eine
Art von Gesamtkunstwerk realisieren sollte. Apollinaire sah in diesem
Unternehmen das Zeichen der Heraufkunft einer ‘vollständigeren
Kunst’, der er den zukunftsträchtigen Namen le sur-réalisme gab. Hier
kündigt sich offenbar bei Apollinaire zum ersten Mal die vielbeschwo-
rene Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis an. Doch liegt ihm die
Idee Marinettis und der späteren Surrealisten noch völlig fern, durch
eine subversive Sprengung aller Künste eine revolutionäre Wirklich-
keit zu errichten. Die erstrebte Allianz der bisher getrennten Einzel-
künste soll hier noch wie von selbst den befriedeten Zustand einer
„allégresse universelle“ herbeiführen, dessen unerachtet, daß die
inzwischen eingetretene Katastrophe des Weltkriegs, über den hier
kein Wort verloren wird, dieser schönen Hoffnung ostentativ den
Boden entzog. Dieser Eskapismus, mit dem bei Apollinaire einher-
ging, daß sein Glauben an die Ästhetik der Moderne - wie der Mari-
nettis - nach 1914 in eine nur noch affirmative Ästhetik des Krieges
umgeschlagen war, antizipiert im Kleinen, als „indirektes nichtextre-
mes Gesamtkunstwerk“, die große „Ermächtigung der Illusion“, das
„direkt negative Gesamtkunstwerk“65 der zweiten avantgardistischen
Welle - französischer Surrealismus, Dadaismus, sowjetische Produk-
tionskunst -, die gewiß nicht zufällig nach der Geschichtskatastrophe
einsetzte und - wie oft genug erörtert - gewiß nicht zufällig an der
naiven Aufhebung der Kunst in politische Praxis scheiterte.
Beschränkte sich Apollinaire 1917 noch darauf, die vereinzelten
Künste zu dem Ziel zu vereinen, die moderne Welt in den bewunder-
ten Errungenschaften ihrer industriellen Zivilisation ästhetisch zu
rechtfertigen, so schlug dieses Programm nach dem Krieg mit der
nächsten Welle der Avantgarden in den scheinbar revolutionären Ver-
such um, die Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen in einer
‘action directe’ überhaupt aufzuheben. Doch beide Unternehmungen
waren letztlich kein Fortschritt in der Verwirklichung des unvollende-
ten Projektes der Moderne, sondern eine Regression hinter die Epo-
64 Œuvres Complètes, Bd. IV, S. 44.
65 Nach O. Marquard, in seiner Abhandlung: „Gesamtkunstwerk und Identitäts-
system“, wie Anm. 44 (hier S. 24).
 
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