Die Entstehung der historischen Biographie
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nur individualethisch zu bewertenden Märtyrertod der stoischen Senatoren erwie-
sen werden sollte, konnte das nicht wohl mit den herkömmlichen Mitteln biogra-
phischer oder enkomiastischer Technik erfolgen. Diese waren, wie oben gezeigt,
zur Präsentation eines in individualethischen Kategorien bewerteten Lebenslaufes
entwickelt worden. Um Leben und Werk des Agricola als eine Leistung hervortre-
ten zu lassen, die wegen ihrer Bedeutung für den Staat, nicht als Erweis individuel-
ler Vollkommenheit, den Rang eines moralischen Exemplums verdient, bedurfte
es der Schilderung und Würdigung der besonderen geschichtlichen Bedingungen
und Ereignisse. Das aber war fraglos Sache der Historiographie, die eben zu diesem
Zweck das Arsenal ihrer Formen und Darstellungsmittel bereitgestellt hatte. So ist
es nur folgerichtig, wenn Tacitus im ‘Agricola’ Formen der biographischen und der
historiographischen Tradition unvermittelt nebeneinander stellt. Es geht ja einer-
seits um Leben und Leistung eines Einzelnen, andererseits um die rechte Ein-
schätzung einer unverwechselbaren geschichtlichen Situation, ihrer Nöte und Mög-
lichkeiten, nicht um die Verwirklichung gleichbleibender Möglichkeiten der un-
veränderlichen Menschennatur. Die Propria geschichtlicher Situationen, mit denen
es der Historiker zu tun hat, sind zumeist soziale Phänomene, die sich am Gemein-
wesen zeigen und aus deren Zusammenhang das Urteil über die Leistung des Ein-
zelnen nicht herausgelöst werden kann.
Diese Erwägung erweist Tacitus’ ‘Agricola’ als historische Biographie im
mittelalterlich-neuzeitlichen Sinn, als Werk also, in dem eine geschichtliche
Epoche im Spiegel eines individuellen Lebens dargestellt wird, ein individuelles
Leben aber eine Epoche repräsentiert. Tacitus hat also mit Recht seinen ‘Agricola’
als erstes in einer Reihe von Geschichtswerken bezeichnet (3,3). Indem er der not-
wendigerweise am sittlichen Telos individueller Lebensführung orientierten stoi-
schen „Märtyrerbiographie“ eine Lebensbeschreibung entgegensetzte, deren mora-
lische Urteile mit dem Staatswohl in einer bestimmten geschichtlichen Situation
zusammenhingen, mag er an ein Merkmal römischer biographischer Schriftstelle-
rei der vorangegangenen zwei Jahrhunderte angeknüpft haben. Es ist allerdings
unwahrscheinlich, daß es für diese Besonderheit römischer Biographie gegenüber
ihrem griechischen Vorbild bereits feste literarische Ausdrucksformen gab. Tacitus
hat mit der geradezu gewaltsamen Verbindung der literarischen Konventionen
zweier für den gebildeten Leser jener Zeit verschiedener Gattungen unmißver-
ständlich zum Ausdruck gebracht, in welchem Sinn er dieses Werk als Biographie
und als Historiographie verstanden wissen wollte.
Ein Abschnitt des ‘Agricola’ freilich zeigt weniger eine Juxtaposition als eine
Verschmelzung biographischer und historiographischer Elemente, und zwar in
einer Weise, die auf ähnliche Einbeziehung biographischer Details in historio-
graphische Zusammenhänge der großen Geschichtswerke vorausweist.
Es handelt sich dabei um die schon kurz erwähnten Kapitel 39-42. Siegmar
Döpp (Würzb. Jahrb. 11,1985,151 ff.) hat diesem vielbehandelten Abschnitt jüngst
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nur individualethisch zu bewertenden Märtyrertod der stoischen Senatoren erwie-
sen werden sollte, konnte das nicht wohl mit den herkömmlichen Mitteln biogra-
phischer oder enkomiastischer Technik erfolgen. Diese waren, wie oben gezeigt,
zur Präsentation eines in individualethischen Kategorien bewerteten Lebenslaufes
entwickelt worden. Um Leben und Werk des Agricola als eine Leistung hervortre-
ten zu lassen, die wegen ihrer Bedeutung für den Staat, nicht als Erweis individuel-
ler Vollkommenheit, den Rang eines moralischen Exemplums verdient, bedurfte
es der Schilderung und Würdigung der besonderen geschichtlichen Bedingungen
und Ereignisse. Das aber war fraglos Sache der Historiographie, die eben zu diesem
Zweck das Arsenal ihrer Formen und Darstellungsmittel bereitgestellt hatte. So ist
es nur folgerichtig, wenn Tacitus im ‘Agricola’ Formen der biographischen und der
historiographischen Tradition unvermittelt nebeneinander stellt. Es geht ja einer-
seits um Leben und Leistung eines Einzelnen, andererseits um die rechte Ein-
schätzung einer unverwechselbaren geschichtlichen Situation, ihrer Nöte und Mög-
lichkeiten, nicht um die Verwirklichung gleichbleibender Möglichkeiten der un-
veränderlichen Menschennatur. Die Propria geschichtlicher Situationen, mit denen
es der Historiker zu tun hat, sind zumeist soziale Phänomene, die sich am Gemein-
wesen zeigen und aus deren Zusammenhang das Urteil über die Leistung des Ein-
zelnen nicht herausgelöst werden kann.
Diese Erwägung erweist Tacitus’ ‘Agricola’ als historische Biographie im
mittelalterlich-neuzeitlichen Sinn, als Werk also, in dem eine geschichtliche
Epoche im Spiegel eines individuellen Lebens dargestellt wird, ein individuelles
Leben aber eine Epoche repräsentiert. Tacitus hat also mit Recht seinen ‘Agricola’
als erstes in einer Reihe von Geschichtswerken bezeichnet (3,3). Indem er der not-
wendigerweise am sittlichen Telos individueller Lebensführung orientierten stoi-
schen „Märtyrerbiographie“ eine Lebensbeschreibung entgegensetzte, deren mora-
lische Urteile mit dem Staatswohl in einer bestimmten geschichtlichen Situation
zusammenhingen, mag er an ein Merkmal römischer biographischer Schriftstelle-
rei der vorangegangenen zwei Jahrhunderte angeknüpft haben. Es ist allerdings
unwahrscheinlich, daß es für diese Besonderheit römischer Biographie gegenüber
ihrem griechischen Vorbild bereits feste literarische Ausdrucksformen gab. Tacitus
hat mit der geradezu gewaltsamen Verbindung der literarischen Konventionen
zweier für den gebildeten Leser jener Zeit verschiedener Gattungen unmißver-
ständlich zum Ausdruck gebracht, in welchem Sinn er dieses Werk als Biographie
und als Historiographie verstanden wissen wollte.
Ein Abschnitt des ‘Agricola’ freilich zeigt weniger eine Juxtaposition als eine
Verschmelzung biographischer und historiographischer Elemente, und zwar in
einer Weise, die auf ähnliche Einbeziehung biographischer Details in historio-
graphische Zusammenhänge der großen Geschichtswerke vorausweist.
Es handelt sich dabei um die schon kurz erwähnten Kapitel 39-42. Siegmar
Döpp (Würzb. Jahrb. 11,1985,151 ff.) hat diesem vielbehandelten Abschnitt jüngst