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Albrecht Dihle
(S. 39) gezeigt, auch im Bericht über Ereignisse die dabei zu beobachtenden
Zustände eingehend und gelegentlich auf Kosten der Ereignisse beschreibt und
gerade dadurch seinen Abstand zur „alten“ Geschichtsschreibung, wie er sie ver-
steht, deutlich macht. Es dürfte umgekehrt keine ganz unzulässige Vereinfachung
bedeuten, wenn man sagt, daß Tacitus, nimmt man seine Äußerungen in den
genannten Annalenkapiteln ernst, ein Buch wie die Kaiserviten Suetons wie ein
Geschichtswerk lesen konnte, sofern er vom Unterschied im Stilniveau abzusehen
vermochte.
Die inhaltliche Annäherung zwischen Historiographie und antiquarischer oder
gelehrter, Zustände beschreibender Literatur hatte es schon einmal gegeben, und
zwar bei einem für die spätere Geschichtsschreibung sehr wichtigen Autor, dem
Stoiker Poseidonios. Das zeigen u. a. die Fragmente aus dem 34. und 35. Buch
Diodors, die den sizilischen Sklavenaufstand beschreiben (lOff.; 34ff.; 39), sowie
das berühmte, bei Athenaios erhaltene Athenion-Fragment (253 E. K.). Insofern
hier soziale und ökonomische Zustände, individuelle und kollektive Verhaltens-
weisen ausgiebig beschrieben werden, um den Ablauf der Ereignisse besser ver-
ständlich zu machen, gehört das durchaus in den Rahmen apodeiktischer, die Ur-
sachen aufweisender Geschichtsschreibung, deren Programm aus Polybios und
Cicero bekannt ist (s. o. S. 13). Indessen nimmte Poseidonios innerhalb dieser Tradi-
tion eine Sonderstellung ein, weil das Geschichtswerk offenbar vornehmlich der
Erläuterung seiner eigenen ethisch-anthropologischen Theorie dienen sollte.
Das Verhalten des Grundbesitzers Damophilos etwa, das den Ausbruch des
Aufstandes bewirkte oder beschleunigte, Tun und Leiden der Sklaven und ihres
„Königs“ Eunous oder die Haltung der Tochter des Damophilos finden nicht aus
biographischem Interesse eine derart ausführliche Darstellung, die sich durchaus
nicht auf res gestae beschränkt. Vielmehr geht es um den Versuch, die Reaktionen
des Menschen schlechthin auf bestimmte soziale, ökonomische und politische
Verhältnisse zu erfassen, sie in ihrer Verschiedenheit auf die Faktoren Natur und
moralische Erziehung zu reduzieren und auf diese Weise die Verantwortung der
Menschen und Menschengruppen für ihr Schicksal zu erweisen (besonders deut-
lich 34 und 39). Die vermutlich von Poseidonios’ Werk direkt oder indirekt beein-
flußten Sittenbilder bei Autoren wie Sallust oder Ammian unterscheiden sich von
ihrem Vorbild dadurch, daß sie stets als Exkurs oder Einleitung im Geschichtswerk
figurieren. Poseidonios hatte demgegenüber offenbar die Geschichtserzählung
selbst mit Hilfe seiner Anthropologie strukturiert (J. Malitz, Die Historien des
Poseidonios, München 1983, 141 ff. u. ö.). Diese Anthropologie war, gemäß den
Gepflogenheiten hellenistischer Philosophie, um der Individualethik willen konzi-
piert. Nicht den Handlungsweisen des großen, die Ereignisse bewegenden Akteurs
galt die Aufmerksamkeit des Historikers nach dem Zeugnis dieser und ähnlicher
Fragmente, sondern menschlichem, moralisch zu bewertendem Verhalten
schlechthin (K. Bringmann, Entr. Hardt 1985, 29ff.).
Albrecht Dihle
(S. 39) gezeigt, auch im Bericht über Ereignisse die dabei zu beobachtenden
Zustände eingehend und gelegentlich auf Kosten der Ereignisse beschreibt und
gerade dadurch seinen Abstand zur „alten“ Geschichtsschreibung, wie er sie ver-
steht, deutlich macht. Es dürfte umgekehrt keine ganz unzulässige Vereinfachung
bedeuten, wenn man sagt, daß Tacitus, nimmt man seine Äußerungen in den
genannten Annalenkapiteln ernst, ein Buch wie die Kaiserviten Suetons wie ein
Geschichtswerk lesen konnte, sofern er vom Unterschied im Stilniveau abzusehen
vermochte.
Die inhaltliche Annäherung zwischen Historiographie und antiquarischer oder
gelehrter, Zustände beschreibender Literatur hatte es schon einmal gegeben, und
zwar bei einem für die spätere Geschichtsschreibung sehr wichtigen Autor, dem
Stoiker Poseidonios. Das zeigen u. a. die Fragmente aus dem 34. und 35. Buch
Diodors, die den sizilischen Sklavenaufstand beschreiben (lOff.; 34ff.; 39), sowie
das berühmte, bei Athenaios erhaltene Athenion-Fragment (253 E. K.). Insofern
hier soziale und ökonomische Zustände, individuelle und kollektive Verhaltens-
weisen ausgiebig beschrieben werden, um den Ablauf der Ereignisse besser ver-
ständlich zu machen, gehört das durchaus in den Rahmen apodeiktischer, die Ur-
sachen aufweisender Geschichtsschreibung, deren Programm aus Polybios und
Cicero bekannt ist (s. o. S. 13). Indessen nimmte Poseidonios innerhalb dieser Tradi-
tion eine Sonderstellung ein, weil das Geschichtswerk offenbar vornehmlich der
Erläuterung seiner eigenen ethisch-anthropologischen Theorie dienen sollte.
Das Verhalten des Grundbesitzers Damophilos etwa, das den Ausbruch des
Aufstandes bewirkte oder beschleunigte, Tun und Leiden der Sklaven und ihres
„Königs“ Eunous oder die Haltung der Tochter des Damophilos finden nicht aus
biographischem Interesse eine derart ausführliche Darstellung, die sich durchaus
nicht auf res gestae beschränkt. Vielmehr geht es um den Versuch, die Reaktionen
des Menschen schlechthin auf bestimmte soziale, ökonomische und politische
Verhältnisse zu erfassen, sie in ihrer Verschiedenheit auf die Faktoren Natur und
moralische Erziehung zu reduzieren und auf diese Weise die Verantwortung der
Menschen und Menschengruppen für ihr Schicksal zu erweisen (besonders deut-
lich 34 und 39). Die vermutlich von Poseidonios’ Werk direkt oder indirekt beein-
flußten Sittenbilder bei Autoren wie Sallust oder Ammian unterscheiden sich von
ihrem Vorbild dadurch, daß sie stets als Exkurs oder Einleitung im Geschichtswerk
figurieren. Poseidonios hatte demgegenüber offenbar die Geschichtserzählung
selbst mit Hilfe seiner Anthropologie strukturiert (J. Malitz, Die Historien des
Poseidonios, München 1983, 141 ff. u. ö.). Diese Anthropologie war, gemäß den
Gepflogenheiten hellenistischer Philosophie, um der Individualethik willen konzi-
piert. Nicht den Handlungsweisen des großen, die Ereignisse bewegenden Akteurs
galt die Aufmerksamkeit des Historikers nach dem Zeugnis dieser und ähnlicher
Fragmente, sondern menschlichem, moralisch zu bewertendem Verhalten
schlechthin (K. Bringmann, Entr. Hardt 1985, 29ff.).