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Borst, Arno; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 1. Abhandlung): Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende: vorgetragen am 11. Februar 1989 — Heidelberg: Winter, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.48156#0050
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Arno Borst

dem Verfasser klar vor Augen: Er will das vielseitige Instrument aus
dem islamischen Spanien den Gelehrten des christlichen Europa
nahebringen, ohne grundsätzliche Vorbehalte zu äußern. Daß der
circulus casarum ein Hilfsmittel für Astrologen ist, soll den christlichen
Leser nicht schrecken, wenn er bloß seine Nachtstunden richtig
einteilen möchte.
Der Übertragungsvorgang, den wir im Fragment beobachten, wird
von keiner Autorität gesteuert. Der einzige im Text gerühmte Autor,
Ptolomeus, hat über Probleme geschrieben, die der Verfasser über-
geht. Für die Themen seiner Wahl stehen ihm offenbar mehrere
Vorlagen zur Verfügung, von denen er keine vorzieht. In ihren Kontext
greift er weder durch Kürzungen noch durch Zusätze ein. Er schreibt
aber auch nicht jede Quelle in ihrer Abfolge nach, sondern mischt
Exzerpte aus allen, obwohl die daraus folgenden Gedankensprünge
seine Systematik behindern. Mit solchen ‘Kompilationen’ oder ‘Kom-
pendien’, über die moderne Gelehrte gern spotten, verschafften sich
mittelalterliche Gelehrte einen ebenso weitreichenden wie ergänzungs-
fähigen Überblick vom Wissenswerten und Fragwürdigen.54
Ist das Konstanzer Fragment also ein Überbleibsel der ersten
christlichen Kompilation zur Astrolabkunde? Am Ursprung der latei-
nischen Literatur vom Astrolab stand um 975 allerdings kein zusam-
menhängendes Kompendium eines berühmten Autors, das in ganzen
Codices weitergereicht worden wäre. Vielmehr kursierten zuerst in
Nordspanien mehrere anonyme, allenfalls antiken Autoritäten unter-
schobene Abhandlungen mit verschiedener Sprachgestalt und Sach-
gliederung, somit von verschiedenen Leuten verfaßt, und wurden in
getrennten Manuskripten durch Europa verbreitet, zunächst in Frank-
reich, nachher in Deutschland.
Grundsätzlich unterschieden sie sich danach, daß die einen Bauan-
leitungen, die anderen Gebrauchsanweisungen für ein Astrolab boten,
Stückwerk also, technische Literatur, die dem Leser nur sagte, wie das
Gerät konstruiert wird und funktioniert, nicht aber, aus welchem
Weltbild es stammt und auf welches Menschenbild es zielt. Um dem
Astrolab trotzdem beizukommen, sammelte man stets mehrere der

54 Dazu aus neuzeitlichem Blickwinkel negativ Thomas S. Kuhn, Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen (1967) S. 28-43; im Blick auf die mittelalterli-
che Wissenschaftsgeschichte positiv Gert Melville, Spätmittelalterliche
Geschichtskompendien. Eine Aufgabenstellung, Römische Historische Mittei-
lungen 22 (1980) S. 51-104; Borst, Zahlenkampfspiel S. 152 f.
 
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