46
Arno Borst
6. Das erste lateinische Lehrbuch der Astrolabkunde
Die nun fällige Revision muß bei der Frage ansetzen, ob auch der
Verfasser dieses Werkes so wie sein Schreiber ein Mönch der
Reichenau war. Als Autor scheidet der Schreiber selbst von vornherein
aus. Zwar unterlief ihm in dem Fragment kein inhaltlicher Irrtum; aber
zahlreiche falsche Satzanschlüsse, verkehrte Worttrennungen, Dekli-
nationsfehler und Schreibversehen beweisen, daß wir die Abschrift
eines nicht sonderlich lateinkundigen Kopisten vor uns haben. Sie ist
nur in der Sprachform nachlässig, im Gedanklichen gewissenhaft, nicht
durch Zusätze, kaum durch Kürzungen entstellt, kommt also der
Denkweise des Verfassers nahe. Trotzdem hätte der Autor eine Kopie,
die unter seinen Augen entstand, wenigstens durchkorrigiert. Von
einer zweiten Hand ist aber in dem Fragment nichts zu sehen.
Das bedeutet wohl, daß der Verfasser anderswo lebte. Damit droht
er wieder in dem Nebel zu verschwinden, der uns die Anfänge der
lateinischen Astrolabkunde seit jeher verhüllt. Weiter blicken wir bloß,
wenn uns das Fragment Zugang zu einem programmatischen Buch oder
einem profilierten Personenkreis verschafft, wenn also das Astrolab
maßgeblichen Europäern um das Jahr 1000 eine zentrale Forderung
ihrer eigensten Weitsicht erfüllte. Erst dann sammelte die Kompilation
nicht bloß beliebigen Stoff, sondern wurde zum Lehrbuch für einen
wichtigen Wissenszweig. Um darüber urteilen zu können, müssen wir
rekonstruieren, wie das ganze Buch aussah, von dem wir bloß ein
Doppelblatt in Händen haben.
Es besaß noch keine Blatt- oder Seitenzählung, wie sie sich seit dem
12. Jahrhundert einbürgerte, jedoch saubere rote Überschriften und
durchgehende Kapitelzählung. Auf dem vorderen Blatt sind die Zahlen
mit den Außenrändern vom Buchbinder abgeschnitten; immerhin
markieren vier Überschriften die Anfänge neuer Kapitel. Auf dem
hinteren Blatt blieben neben den gleichfalls vier Überschriften die
Kapitelzahlen stehen; sie reichen von ALF bis XLVIII. Rechnen wir
diese vier Kapitel je Blatt hoch, so kommen wir auf elf vorangegangene
Blätter.
Wenn unser Doppelblatt das äußerste einer gehefteten Lage gewe-
sen wäre, könnten wir den Umfang der verlorenen Teile besser
abschätzen, denn die Reichenauer hefteten ihre Codices gewöhnlich in
Lagen von je vier Doppelblättern zusammen und numerierten die
Lagen (Quaternionen) jeweils am Schluß durch. Eine Textlücke
zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil des Doppelblatts hilft
Arno Borst
6. Das erste lateinische Lehrbuch der Astrolabkunde
Die nun fällige Revision muß bei der Frage ansetzen, ob auch der
Verfasser dieses Werkes so wie sein Schreiber ein Mönch der
Reichenau war. Als Autor scheidet der Schreiber selbst von vornherein
aus. Zwar unterlief ihm in dem Fragment kein inhaltlicher Irrtum; aber
zahlreiche falsche Satzanschlüsse, verkehrte Worttrennungen, Dekli-
nationsfehler und Schreibversehen beweisen, daß wir die Abschrift
eines nicht sonderlich lateinkundigen Kopisten vor uns haben. Sie ist
nur in der Sprachform nachlässig, im Gedanklichen gewissenhaft, nicht
durch Zusätze, kaum durch Kürzungen entstellt, kommt also der
Denkweise des Verfassers nahe. Trotzdem hätte der Autor eine Kopie,
die unter seinen Augen entstand, wenigstens durchkorrigiert. Von
einer zweiten Hand ist aber in dem Fragment nichts zu sehen.
Das bedeutet wohl, daß der Verfasser anderswo lebte. Damit droht
er wieder in dem Nebel zu verschwinden, der uns die Anfänge der
lateinischen Astrolabkunde seit jeher verhüllt. Weiter blicken wir bloß,
wenn uns das Fragment Zugang zu einem programmatischen Buch oder
einem profilierten Personenkreis verschafft, wenn also das Astrolab
maßgeblichen Europäern um das Jahr 1000 eine zentrale Forderung
ihrer eigensten Weitsicht erfüllte. Erst dann sammelte die Kompilation
nicht bloß beliebigen Stoff, sondern wurde zum Lehrbuch für einen
wichtigen Wissenszweig. Um darüber urteilen zu können, müssen wir
rekonstruieren, wie das ganze Buch aussah, von dem wir bloß ein
Doppelblatt in Händen haben.
Es besaß noch keine Blatt- oder Seitenzählung, wie sie sich seit dem
12. Jahrhundert einbürgerte, jedoch saubere rote Überschriften und
durchgehende Kapitelzählung. Auf dem vorderen Blatt sind die Zahlen
mit den Außenrändern vom Buchbinder abgeschnitten; immerhin
markieren vier Überschriften die Anfänge neuer Kapitel. Auf dem
hinteren Blatt blieben neben den gleichfalls vier Überschriften die
Kapitelzahlen stehen; sie reichen von ALF bis XLVIII. Rechnen wir
diese vier Kapitel je Blatt hoch, so kommen wir auf elf vorangegangene
Blätter.
Wenn unser Doppelblatt das äußerste einer gehefteten Lage gewe-
sen wäre, könnten wir den Umfang der verlorenen Teile besser
abschätzen, denn die Reichenauer hefteten ihre Codices gewöhnlich in
Lagen von je vier Doppelblättern zusammen und numerierten die
Lagen (Quaternionen) jeweils am Schluß durch. Eine Textlücke
zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil des Doppelblatts hilft