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Borst, Arno; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 1. Abhandlung): Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende: vorgetragen am 11. Februar 1989 — Heidelberg: Winter, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.48156#0080
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Arno Borst

9. Bildungseifer und Zeitdeutung bei Bern von Reichenau
Wir begleiten Bern nach^Prüm zurück. Er hatte in Frankreich die beste
Schule für künftige Äbte durchlaufen. Der deutsche Kaiser Heinrich II.
war gut beraten, als er ihn 1008 zum Reichenauer Abt ernannte. Aus so
hartem Holz wie Abbo war der milde Bern nicht geschnitzt, zum Glück
für das Land am Bodensee. Hätte er die stolzen Herren im Inselkloster
gedemütigt und sich gegen den Konstanzer Bischof aufgelehnt, so wäre
die Klosterreform trotz aller Unterstützung durch Kaiser und Papst von
neuem gescheitert.
Aber Bern hatte in Fleury nicht bloß Musik und Astronomie gelernt,
sondern eine zeitbewußte Verbindung von „großer Wissenschaft und
Frömmigkeit“, von „Gelehrsamkeit und Sittlichkeit“, wie Hermann
exakt formulierte. Berns eigene Schriften, die er als Reichenauer Abt
verfaßte, zeigen die Spannweite seines Bildungseifers. Er strebte nach
Vereinigung von Zahl und Sprache, Natur und Kunst, geschenkter und
geformter Zeit, vor allem im gottesdienstlichen Chorgesang. Gern
begründete er die Festlegung liturgischer Termine mit zahlensymboli-
schen Entsprechungen zu den sechs Weltaltern, den fünf Sinnen, den
vier Elementen, beschwichtigte also die Ungeduld des Augenblicks
durch Deutung der Zeit als kosmischer Harmonie. „Wissenschaft und
Gottverlangen“, mit dieser Formel und ihrer Reihenfolge ist Berns
Programm treffsicher bezeichnet.122
Es fand über die Klausur hinaus Anklang, forderte dem Konvent
jedoch mehr und anderes ab als das schöne Schreiben, Malen und
Singen bisher. Jetzt mußten die Reichenauer Mönche ihren Chorge-
sang musiktheoretisch unterbauen, ihren Heiligenkalender an Legen-
densammlungen kritisch überprüfen, aus ihren annalistischen Notizen
eine Weltchronik Zusammentragen, ihr Kirchenjahr nach dem Lauf von
Sonne und Mond einteilen. Die Grundhaltung war von Abbo inspiriert,
doch in allen Einzelheiten ging Bern an ihm vorbei, und unbeirrbar
folgte ihm Hermann der Lahme. Wie auf Verabredung rühmten beide

122 Bern, Prologus in Tonarium c. 14, hg. von Migne PL Bd. 142 Sp. 1115 über Zahl
und Sprache; Bern, Briefe Nr. 17 S. 50 f. (Widmungsbrief zum Prologus in
Tonarium) über Natur und Kunst; ebd. Nr. 13 S. 40-42, auch Nr. 8 S. 34 über
Zeit und Zahlensymbolik. Dazu Borst, Forschungsbericht S. 389-391, 397 f.
Vollständigste Übersicht zu Berns Schriften bei Oesch. Berno S. 43-83;
ergänzend Heinrich Hüschen, Bern von Reichenau, in: Verfasserlexikon Bd. 1
(1978) Sp. 737-743. Treffendste Würdigung bei Jean Leclercq, Wissenschaft und
Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters (1963) S. 270-273.
 
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