106
Arno Borst
Ein fahrender Zigeuner führte in ein einsames Dorf Kolumbiens mit
Jahrhunderten Verspätung die wichtigsten Erfindungen der Weltge-
schichte ein und ersetzte die ursprüngliche Intuition der Einheimischen
durch phantastische Wissenschaft mit symbolträchtigen Instrumenten.
Unter den ersten Hilfsmitteln, die der Zigeuner dem Patriarchen der
Gemeinde überließ, waren „einige portugiesische Landkarten und
verschiedene nautische Geräte. Außerdem stellte er ihm eine eigen-
händig niedergeschriebene Kurzfassung der Studien des Mönchs
Hermann zur Verfügung, damit er sich des Astrolabiums, der Magnet-
nadel und des Sextanten bedienen konnte.“ Mit diesen Werkzeugen
versuchte der Urvater, ein neuer Don Quijote, von mehr Leidenschaft
als Sachverstand geleitet, Raum und Zeit zu durchdringen, gegen den
Widerstand der Urmutter, die ihm sein närrisches Astrolab zer-
schlug.
Nicht als hätte der Reichenauer Mönch auch noch den Magnetkom-
paß des 13. und den Sextanten des 17. Jahrhunderts erfunden! An seine
Schriften zum Astrolab, die ältesten im Roman erwähnten Manuskrip-
te, hängten sich vielerlei Fortsetzungen, eine veraltete Kompilation,
zeitlos gerade deshalb. Sie lehrte ihren letzten Leser so wie den ersten
nicht „das geringste über seine eigene Zeit“, wohl aber „die grundle-
genden Kenntnisse des mittelalterlichen Menschen“, obendrein die
Hoffnung, über das Blickfeld des Moments hinauszusehen. Denn die
Manuskripte des Zigeuners, die man auf mannigfache Weise entzif-
fern, wiederlesen und auslegen konnte, enthielten verrätselte Voraus-
sagen für eine ferne Zukunft, weit jenseits der zeitgenössischen Natur
und Geschichte.191
Der Neuen Welt, die kein eigenes antikes und mittelalterliches Erbe
zu tradieren hat, mag Hermann der Lahme zum Gründerheros aus
mythischer Vorzeit werden; die Alte Welt versetzt ihn nicht so weit ins
Unwirkliche. Indes könnten ihre Gelehrten genauer als jeder Dichter
ergründen, warum das Astrolab tatsächlich nicht bloß ein Werkzeug
war, das einer vergangenen Kultur ihre Welt zu erschließen half. Wenn
es ein Symbol für das Bild war, das der Mensch immer wieder anders
von seiner Welt entwirft, tritt dieser hochmittelalterliche ‘Weltenspie-
gel’ neben andere Symbole desselben Bilds: Sonnenuhr und Himmels-
191 Gabriel Garcia Märquez, Hundert Jahre Einsamkeit (1979) S. 12 f., 407. Dazu
oberflächlich Borst, Forschungsbericht S. 472; vertiefend Gustav Siebenmann,
Fabulaciön sobre lo fabuloso. Acerca de Gabriel Garcia Märquez, in: Derselbe,
Ensayos de literatura hispanoamericana (1988) S. 251-290, hier S. 284-290.
Arno Borst
Ein fahrender Zigeuner führte in ein einsames Dorf Kolumbiens mit
Jahrhunderten Verspätung die wichtigsten Erfindungen der Weltge-
schichte ein und ersetzte die ursprüngliche Intuition der Einheimischen
durch phantastische Wissenschaft mit symbolträchtigen Instrumenten.
Unter den ersten Hilfsmitteln, die der Zigeuner dem Patriarchen der
Gemeinde überließ, waren „einige portugiesische Landkarten und
verschiedene nautische Geräte. Außerdem stellte er ihm eine eigen-
händig niedergeschriebene Kurzfassung der Studien des Mönchs
Hermann zur Verfügung, damit er sich des Astrolabiums, der Magnet-
nadel und des Sextanten bedienen konnte.“ Mit diesen Werkzeugen
versuchte der Urvater, ein neuer Don Quijote, von mehr Leidenschaft
als Sachverstand geleitet, Raum und Zeit zu durchdringen, gegen den
Widerstand der Urmutter, die ihm sein närrisches Astrolab zer-
schlug.
Nicht als hätte der Reichenauer Mönch auch noch den Magnetkom-
paß des 13. und den Sextanten des 17. Jahrhunderts erfunden! An seine
Schriften zum Astrolab, die ältesten im Roman erwähnten Manuskrip-
te, hängten sich vielerlei Fortsetzungen, eine veraltete Kompilation,
zeitlos gerade deshalb. Sie lehrte ihren letzten Leser so wie den ersten
nicht „das geringste über seine eigene Zeit“, wohl aber „die grundle-
genden Kenntnisse des mittelalterlichen Menschen“, obendrein die
Hoffnung, über das Blickfeld des Moments hinauszusehen. Denn die
Manuskripte des Zigeuners, die man auf mannigfache Weise entzif-
fern, wiederlesen und auslegen konnte, enthielten verrätselte Voraus-
sagen für eine ferne Zukunft, weit jenseits der zeitgenössischen Natur
und Geschichte.191
Der Neuen Welt, die kein eigenes antikes und mittelalterliches Erbe
zu tradieren hat, mag Hermann der Lahme zum Gründerheros aus
mythischer Vorzeit werden; die Alte Welt versetzt ihn nicht so weit ins
Unwirkliche. Indes könnten ihre Gelehrten genauer als jeder Dichter
ergründen, warum das Astrolab tatsächlich nicht bloß ein Werkzeug
war, das einer vergangenen Kultur ihre Welt zu erschließen half. Wenn
es ein Symbol für das Bild war, das der Mensch immer wieder anders
von seiner Welt entwirft, tritt dieser hochmittelalterliche ‘Weltenspie-
gel’ neben andere Symbole desselben Bilds: Sonnenuhr und Himmels-
191 Gabriel Garcia Märquez, Hundert Jahre Einsamkeit (1979) S. 12 f., 407. Dazu
oberflächlich Borst, Forschungsbericht S. 472; vertiefend Gustav Siebenmann,
Fabulaciön sobre lo fabuloso. Acerca de Gabriel Garcia Märquez, in: Derselbe,
Ensayos de literatura hispanoamericana (1988) S. 251-290, hier S. 284-290.