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Arno Borst
Stunde - aus einer Sensibilisierung der Epoche für ihre bemessene
Zeit.201
Auch wer sich heute - wie Abbo und Hermann vor tausend Jahren -
gegen Weltuntergangsstimmungen wehrt, muß eingestehen, daß der
Zeithorizont des späten 20. Jahrhunderts aus den skizzierten Gründen
viel von der Weite verloren hat, nach der frühere Gemeinschaften
strebten, nicht zuletzt die drei Gruppen, denen wir das Konstanzer
Fragment verdanken und auf die ich noch einmal zurückkommen
muß.
Die Leipziger Gelehrten, die es 1936 wiederentdeckten, mußten sich
nicht um die Messung ihrer Zeit bemühen; es genügte ein Blick auf das
Datum der Tageszeitung, den Stundenzeiger der Taschenuhr. Sie
brauchten sich auch nicht in astronomische Chronologie zu vertiefen,
wenn sie die Vergangenheit erforschten. Freilich waren sie keine
Fachleute für Islamkunde, und für die vaterländische Historie der
mittelalterlichen Kaiserzeit, an der sie hingen, gab ein Bruchstück über
das Astrolab nichts her. Gleich wohl nahmen sie es, gewissenhaft, wie
sie waren, in ihre Obhut, damit Spätere es unter anderen Blickwinkeln
auswerten könnten.
Die Konstanzer Kaufherren bedurften um 1600 zur Zeitmessung
keines Astrolabs mehr. Manchmal waren sie genötigt, für Kreditge-
schäfte oder Aktenvermerke ihre Zeit genau festzuhalten; es kostete
einige Umstände, jeden Tag auf dem Wandkalender, jeden Glocken-
schlag von der Kirchturmsuhr nachzuzählen. Selten schweiften ihre
Blicke in weitere Vergangenheit oder Zukunft, und wenn die Pest über
sie kam, dachten sie eher an Sozialhilfe als an Kasteiung. Dennoch
wickelten sie ihre hochmodernen Rechnungsbücher in uraltes Perga-
ment und bewahrten so, sparsam, wie sie waren, den lateinischen
Trödel.
Die Reichenauer Mönche wußten um 1000 leichter zu sagen,
welchen Heiligen sie gerade feierten, als welches römische Datum man
schrieb. Ein Blick durchs Fenster vergegenwärtigte ihnen Jahreszeit
und Tagesstunde; wann sie zum nächsten Chorgebet antreten müßten,
würde der Wink des Abtes auch ohne Zeitrechnerei festsetzen. Sie
lebten auf die Zukunft hin, wollten hauptsächlich ihr Seelenheil retten
und brauchten dafür den Beistand der christlichen Heiligen, mitnichten
201 Dazu Heinz Zemanek, Kalender und Chronologie. Bekanntes und Unbekann-
tes aus der Kalenderwissenschaft (41987) S. 103-114; Borst, Computus
S. 81 f.
Arno Borst
Stunde - aus einer Sensibilisierung der Epoche für ihre bemessene
Zeit.201
Auch wer sich heute - wie Abbo und Hermann vor tausend Jahren -
gegen Weltuntergangsstimmungen wehrt, muß eingestehen, daß der
Zeithorizont des späten 20. Jahrhunderts aus den skizzierten Gründen
viel von der Weite verloren hat, nach der frühere Gemeinschaften
strebten, nicht zuletzt die drei Gruppen, denen wir das Konstanzer
Fragment verdanken und auf die ich noch einmal zurückkommen
muß.
Die Leipziger Gelehrten, die es 1936 wiederentdeckten, mußten sich
nicht um die Messung ihrer Zeit bemühen; es genügte ein Blick auf das
Datum der Tageszeitung, den Stundenzeiger der Taschenuhr. Sie
brauchten sich auch nicht in astronomische Chronologie zu vertiefen,
wenn sie die Vergangenheit erforschten. Freilich waren sie keine
Fachleute für Islamkunde, und für die vaterländische Historie der
mittelalterlichen Kaiserzeit, an der sie hingen, gab ein Bruchstück über
das Astrolab nichts her. Gleich wohl nahmen sie es, gewissenhaft, wie
sie waren, in ihre Obhut, damit Spätere es unter anderen Blickwinkeln
auswerten könnten.
Die Konstanzer Kaufherren bedurften um 1600 zur Zeitmessung
keines Astrolabs mehr. Manchmal waren sie genötigt, für Kreditge-
schäfte oder Aktenvermerke ihre Zeit genau festzuhalten; es kostete
einige Umstände, jeden Tag auf dem Wandkalender, jeden Glocken-
schlag von der Kirchturmsuhr nachzuzählen. Selten schweiften ihre
Blicke in weitere Vergangenheit oder Zukunft, und wenn die Pest über
sie kam, dachten sie eher an Sozialhilfe als an Kasteiung. Dennoch
wickelten sie ihre hochmodernen Rechnungsbücher in uraltes Perga-
ment und bewahrten so, sparsam, wie sie waren, den lateinischen
Trödel.
Die Reichenauer Mönche wußten um 1000 leichter zu sagen,
welchen Heiligen sie gerade feierten, als welches römische Datum man
schrieb. Ein Blick durchs Fenster vergegenwärtigte ihnen Jahreszeit
und Tagesstunde; wann sie zum nächsten Chorgebet antreten müßten,
würde der Wink des Abtes auch ohne Zeitrechnerei festsetzen. Sie
lebten auf die Zukunft hin, wollten hauptsächlich ihr Seelenheil retten
und brauchten dafür den Beistand der christlichen Heiligen, mitnichten
201 Dazu Heinz Zemanek, Kalender und Chronologie. Bekanntes und Unbekann-
tes aus der Kalenderwissenschaft (41987) S. 103-114; Borst, Computus
S. 81 f.