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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0016
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Wolfgang Schluchter

tige erst wirklich werden. Er will die Welt nicht nur, wie es in seiner
Sicht auch noch Hegel tat, anders interpretieren, er will sie viel-
mehr verändern. Ihm geht es um Befreiung, um Emanzipation. Es
gehört freilich zu den Eigentümlichkeiten gerade des dialektischen
Totalitätsdenkens, daß es insbesondere in seiner aktivistischen
Variante dazu tendiert, die extremste Beschränkung der individuel-
len Freiheit hinzunehmen, ja sie geradezu zu fordern, damit die
Bedingungen beseitigt werden können, die ihrer vollen Entfaltung
angeblich im Wege stehen. Karl Popper hat deshalb trotz mancher
Simplifikation nicht ganz unrecht, wenn er Hegel wie Marx zu den
falschen Propheten der Freiheit rechnet und in ihnen Feinde der
offenen Gesellschaft sieht.

IV
Tatsächlich ist für den Popper des Jahres 1944 der Marxismus die
„reinste, am weitesten entwickelte und gefährlichste Form des
Historizismus“, obgleich er seinen humanitären Impuls anerkennt.
Auch warnt er trotz seiner radikalen Kritik davor, das Werk von
Marx zu ignorieren. Alle modernen sozialwissenschaftlichen
Schriftsteller von Rang verdankten Marx irgendetwas, auch wenn
sie, wie Popper selbst, in Grundfragen völlig konträr zu ihm ste-
hen.18 Dies läßt sich nun auch für Emile Dürkheim und für Max
Weber sagen, mit denen die moderne Soziologie an der Schwelle
zum 20. Jahrhundert freilich recht eigentlich erst beginnt. Beide
sind hier deshalb interessant, weil sie bei aller Unterschiedlichkeit
eines gemeinsam haben: Sie begründen Soziologie nicht, wie Marx,
aus dem Geiste eines transformierten Hegel, sondern aus dem Gei-
ste eines transformierten Kant. Dürkheim, von der Philosophie
herkommend, will ganz ausdrücklich in der Nachfolge Kants eine
Physik der Sitten und des Rechts schreiben, Weber, von der Juri-
sprudenz und Nationalökonomie herkommend, eine Handlungs-,
dern es werde wirklich. Vgl. Georg Friedrich Wilhelm (sic!) Hegel, Philosophie
des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hrsg. von Dieter
Henrich, Frankfurt 1983, S. 51. Henrich überschreibt deshalb auch seine Einlei-
tung mit „Vernunft in Verwirklichung“.
18 Vgl. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Zwei Bände, Zwei-
ter Band: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern und München
1958, S. 103.
 
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