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Wolgast, Eike [Editor]; Seebaß, Gottfried [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Editor]; Sehling, Emil [Bibliogr. antecedent]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (1. Band = 1. Abtheilung, 1. Hälfte): Die Ordnungen Luthers, die Ernestinischen und Albertinischen Gebiete — Leipzig: O.R. Reisland, 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.26586#0012
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VIII

Vorwort.

worfenen. In jenen Zeiten der Umwälzung der bestehenden Dinge wurde nach der Zuständigkeit
wenig gefragt, diese Ordnungen fanden ihre Geltung durch thatsächliche Übung, und die Theorie
lehrt geradezu, dass die abhängigen Städte das Gesetzgebungsrecht in kirchlichen Dingen durch
unvordenkliche Verjährung erworben haben (Böhmer, Ius ecclesiast. protest. lib. I, tit. 2, § 87).
Im Einzelnen waren die Vorgänge bei dieser kirchlichen Rechtsbildung sehr verschieden.
Der Landesherr erliess und publicirte das Gesetz direkt wie die übrigen landesherrlichen Ge-
setze, oder er beauftragte dritte Personen, in seinem.Namen Verordnungen zu erlassen, z. B.
die Visitationskommissionen. Deren Verordnungen sind ihrem Wesen nach ebenfalls landes-
herrliche Verordnungen. Oder der Landesherr beauftragte die Behörden in eigenem Namen
Ordnungen zu publiziren, z. B. Herzog Albrecht von Preussen die beiden Bischöfe (Ehemandate).
Oder eine kirchliche versammlung (Synode) beschloss und der Landesherr genehmigte den Be-
schluss. Dass Synodalbeschlüsse ohne landesherrliche Genehmigung bindend seien, entspricht
nicht der lutherischen, sondern der reformirten Rechtsübung. Hier tritt neben die landesherr-
liche (oder von der städtischen Obrigkeit) ausgehende Rechtsbildung die von Selbstverwaltungs-
körpern geübte.
Seltener sind Verträge die Grundlage des neuen Kirchenwesens, z. B. Übereinkommen
zwischen Fürst und Stadt (so in Zerbst, Stolberg), oder zwischen dem Rath und den Pfarrern,
so in Zwickau.
Auch der evangelische Bischof und die Consistorien trafen bisweilen Verfügungen
dauernden Charakters. Die Cellischen Ordnungen wurden durch eine Berathung von Ab-
gesandten der Consistorien „verglichen“, und ohne dass der Landesherr sie ausdrücklich ge-
nehmigt hatte, wurden sie von den Consistorien beobachtet, allerdings auch frei wieder abgeändert.
Ja, selbst die freiheitliche Rechtsbildung, die das Ideal Luther’s gewesen war, hat sich
(wenn auch wohl nur für die Ceremonien) in selbständigen Anordnungen der Pfarrer das ganze
Jahrhundert hindurch erhalten.
Um Kompetenzfragen stritt man sich im 16. Jahrhundert nicht, sondern allein um den
Inhalt. War eine Anordnung den Intentionen der Obrigkeit zuwider, so sorgte diese schon für
Beseitigung. Man kann daher vielleicht sogar’so weit gehen, eine stillschweigende Genehmigung
des Landesherrn zu solchen Massnahmen zu fingiren. Darüber, dass eine mit Zwangsgewalt
durchzuführende, oder eine auf das ganze Land sich erstreckende Ordnung nur von der staat-
lichen Centralgewalt ausgehen konnte, war man einig.
Wer den Rechtsstand der evangelischen Kirche erkennen will, darf sich daher nicht mit
einer Kenntniss der formell vom Landesherrn ausgegangenen Gesetze begnügen. Nur der Zu-
sammenhalt aller aus so verschiedenen Quellen fliessenden Normen gewährt ein richtiges Bild
des kirchlichen Lebens jener Periode. Wir fassen daher für unsere Sammlung den Begriff
„Kirchen-Ordnung“im weitesten Sinne des Wortes und verstehen darunter alle zur Regelung
der kirchlichen Verhältnisse bestimmten Verfügungen (mit Ausnahme natürlich der nur vorüber-
gehenden Einzelzwecken dienenden Anordnungen).
II. Eine feste Bezeichnung für die kirchlichen Normen besteht nicht. Die Bekenntniss-
schriften reden von caeremoniae, traditiones, ordinationes. Später wird der Ausdruck Ordnung,
Landesordnung, Kirchen-Ordnung üblich, namentlich wenn es sich um formelle Anordnungen
des Landesherrn oder der Visitatoren handelt. Die letzteren sprechen auch mit Vorliebe von
„Abschieden“.
Wenn bei den umfassenden Kodifikationen gewöhnlich zwei grosse Theile unterschieden
werden, die auf die Lehre bezüglichen Sätze „Credenda“ und die Agenda, so hat man dabei
„Agenda“ im weitesten Sinne zu nehmen für Ordnung des Gottesdienstes, pastorale Unterweisung,
Verfassung, Disciplin, Zucht, Ehe, Schule, Kranken- und Armenwesen, Vermögensrecht u. s. w.
Der Ausdruck „Agenda“ findet sich aber auch identisch mit Kirchen-Ordnung als Titel für die
 
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