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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0013
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1. Einleitung

eine historische Autorität zukommt, sondern weil sie geeignet sind; wenn also
nicht die Gegenwart das Mittelalter erklärt, sondern cum grano salis das Mittel-
alter hilft, die Gegenwart zu deuten. Ein solches Beispiel soll am Beginn der vor-
liegenden Arbeit stehen.
Als das Zweite Deutsche Fernsehen im Jahr 2013 den vieldiskutierten Dreiteiler
Unsere Mütter, unsere Väter über die Schicksale von fünf Deutschen während der
letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs ausstrahlte, kam der Journalist Romain Leick
in seiner Besprechung des Epos im Magazin Der Spiegel zu folgendem Fazit:
„Es gibt eine Art des schlechten Gewissens, das die Sünde nicht wirklich bereut,
sondern sich an ihr weidet. Katholische Prediger haben früher gern vier Arten des
Gewissens unterschieden: das gute ruhige, das gute aufgewühlte, das schlechte auf-
gewühlte und das schlechte friedliche.“
Die erste Kategorie liege, so der Autor, für Deutschland „ein für alle Mal außer
Reichweite“; eher müsse es „aufpassen, dass es nicht in letztere verfällt“.4
Als jene hier von Leick zitierten „katholischen Prediger“ lassen sich der Zis-
terzienser Bernhard von Clairvaux (f 1153) und - auf diesen rekurrierend -
der Jesuit Louis Bourdaloue (f 1704) identifizieren. Dass diese beiden hier ge-
meint sind, ist wahrscheinlich, weil sich in den ihnen zugeschriebenen Werken
ausdrückliche Erwähnungen der von Leick hier angeführten Gewissensarten
finden lassen. Auch hatte wenige Jahre zuvor der französische Philosoph Pascal
Bruckner in einer Studie über den europäischen Schuldkomplex genau jenen
vom deutschen Journalisten thematisierten Befund unter Bezug auf eben Bern-
hard und Bourdaloue angesprochen. In der Diagnose selbst mochte Leick
seiner wahrscheinlichen Vorlage Bruckner nicht mit dessen Gewissheit folgen:
Denn während der Deutsche nur die Gefahr sah, dass Deutschland sich mit ei-
nem schlechten Gewissen arrangieren könnte, war dieses Arrangement für den
Franzosen schon längst in ganz Europa anzutreffen. Er schrieb:
„Der Jesuit Louis Bourdaloue, ein berühmter Prediger am Hof Ludwigs XIV., un-
terschied in der Nachfolge des heiligen Bernhard von Clairvaux vier Arten des Ge-
wissens: das gute ruhige (Paradies), das gute aufgewühlte (Fegefeuer), das schlechte
aufgewühlte (die Hölle) und das schlechte friedliche (die Hoffnungslosigkeit). Es
dürfte klar sein, dass das moderne Europa zur letzten Kategorie zu zählen ist.“5

4 R. Leick, Die Wunde der Vergangenheit, S. 138.
5 P. Bruckner, Der Schuldkomplex, S. 223.
 
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