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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0016
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1.1 Zum Problem

15

ihnen begegnet das Gewissen zuvorderst als ein innerseelisches Phänomen - je-
doch als ein solches, mit dem der Mensch das Eigene stets zugleich überschritt:
Nicht nur war er gehalten, sich als sein eigener Beobachter selbst in ein Verhältnis
zu allgemeinen und - sofern sie ihn exklusiv betrafen - speziellen Normen zu
setzen; er hatte sich stets auch jener Instanz zu öffnen, die ihn selbst und sein
eigenes Inneres mindestens so gut kannte, wie er sich selbst: dem allwissenden
und allmächtigen Gott. So verteidigte sich der Benediktiner Ralph d’Escures
(f 1122), seit 1114 Erzbischof von Canterbury, im Jahr 1119 vor dem Papst wegen
verschiedener gegen ihn vorgebrachter Anschuldigungen mit dem Hinweis: So-
wohl Gott wisse als auch seine Seele wisse, dass sein Gewissen rein sei.13 Das
Wissen um das eigene Denken und Handeln war immer ein geteiltes Wissen:
eben ein Mit-Wissen - con-scientia. Innerhalb der hieraus erwachsenden Trias
von Gott, Welt und Selbst bewegen sich die neuen Vorstellungen vom Gewissen,
die im 12. Jahrhundert ihren Ursprung nahmen.
Niederschlag fanden diese Gedanken in einer ganzen Reihe von Texten. Zu
nennen ist hier natürlich Abelards (f 1142) Ethik14 (auch wenn conscientia - das
Gewissen - hier als Terminus kaum präsent ist), ebenso sein bereits zuvor ver-
fasster Kommentar zum Römerbrief.15 Vor allem aber ist auf eine neue Art von
Literatur hinzuweisen, die nicht im Gewand des Kommentars oder der abstrak-
ten Abhandlung begegnet, sondern die ihre Leser oder Hörer dort ansprechen
wollte, wo diese sich bewegten: im konkreten sozialen Raum, im Leben.16
Es waren Texte, die praktische Hilfe bei der Bewältigung des Lebens verhie-
ßen, Texte, die den Einzelnen ansprachen, Texte, die Beispiele boten, mit deren
Hilfe jeder nicht nur erkennen konnte, dass er mit seinen eigenen Zweifeln,
seinen Ängsten und seiner Schuld nicht allein war, sondern die sich selbst als
Remedium, als Hilfsmittel, empfahlen. Ihre Themen waren Schuld und Verant-
wortung, Selbsterkenntnis und Gottsuche, der Mensch und sein Gewissen.
Trotz einer solchen Orientierung, bei der moralische Prinzipien, ethische
Handlungsnormen wie auch konkrete Handlungs- und Sprechmuster zusam-
menfielen und in Strategien einer ,richtigen* Lebensführung kumulierten, haben
diese Texte in Moderne und Gegenwart kaum Beachtung gefunden. Dieser Um-
13 „[...] novit Deus et novit anima mea quia prorsus immunis est ab hoc transgressionis nevo tota
conscientia mea.“ Hugo Cantor, The history of the Church ofYork, S. 104.
14 Vgl. Abelard, Scito te ipsum, ed. R. M. Ilgner, 37.1, S. 224-6 und passim. Vgl. hierzu B. Hen-
nig, Schuld und Gewissen.
15 Vgl. Abelard, Expositio in epistolam ad Romanos, ad 2.15, Bd. 1, S. 194; ad 6.11, Bd. 2, S. 452;
ad 9.1, Bd. 2, S. 590, 592; ad 14.14, Bd. 3, S. 808. Vgl. hierzu R. Peppermüller, Abaelards Aus-
legung, S. 134f., 138-40; M. Perkams, Liebe als Zentralbegriff, s.v. und B. Hennig, Schuld und
Gewissen, S. 133f.
16 Vgl. hierzu unten im Kapitel 2.2.
 
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