Metadaten

Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0015
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
14

1. Einleitung

1.1 Zum Problem
Für Europa stellte das 12. Jahrhundert eine Zeit des Umbruchs und der Neuori-
entierung in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen dar.9 Das hier im besonde-
ren Fokus stehende Feld der Erkenntnis des Menschen über sich selbst zählt da-
bei zu jenen, für die ein solcher Aufbruch bereits vor geraumer Zeit festgestellt
wurde.10 Es entstand eine neue Leidenschaftlichkeit im Umgang mit dem Gewis-
sen als Phänomen wie als Begriff, die darauf hinweist, dass dieses ,Gewissen* im
Zentrum eines Wandels stand - eines Wandels, der die Sicht des Menschen auf
sich selbst veränderte. Die dabei neu entworfenen Bilder und Konzepte vom Ge-
wissen gründeten auf der Basis einer breiten Tradition des antiken wie des genuin
christlichen Erbes, aber, so Ludger Honnefelder:
„Erst im 12./13. Jahrhundert kommt es zu theologischen und philosophischen Aus-
einandersetzungen, die dann zu jenen Gewissenstheorien führen, die die weitere
Entwicklung bis hin zu Kant und über ihn hinaus bestimmen und auf deren Hinter-
grund die europäische Neuzeit ihren Gewissensbegriff formuliert.“11
In diesem dangen* 12. Jahrhundert entstanden neue Vorstellungen vom Men-
schen, neue Auffassungen von Gemeinschaft, neue Ideen des Rechts, neue Sich-
ten auf Gott. Ein neuer Begriff vom Gewissen wurde zur Klammer, die diese im
Bewusstsein des Menschen verband. Man kann das Gewissen als Ausdruck des
menschlichen Bemühens deuten, das Wissen von sich selbst mit jenem von der
Welt zu verknüpfen. In ihm fiel das Wissen des Menschen von sich selbst mit je-
nem zusammen, das er von der Welt hatte; das Gewissen wurde zu einer je per-
sönlichen Normativitätsressource für alle ethisch-moralischen Herausforderun-
gen des Menschen.12
Nicht als ,theoretisierende* Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem
Wesen eines abstrakten Konzepts, sondern als Versuche der Daseinsbewältigung
präsentieren sich die Schriften, die von diesem Nachdenken Zeugnis ablegen. In

9 Vgl. hierzu mit Verweisen - auch auf die klassischen Studien von Bartlett, Benson, Consta-
ble, Haskins, Moore, Southern und anderen - Th. F. X. Noble / J. Van Engen (Hgg.),
European Transformations.
10 M.-D. Chenu sprach vom „Erwachen“: L’eveil de la conscience.
11 L. Honnefelder, Conscientia sive Ratio, S. 8. Eine entsprechende Denkspur von Thomas von
Aquin zu Cajetan und Suärez verfolgte jüngst M. Perkams, Gesetz und Gewissen, S. 131-44.
12 Darauf wies schon David Luscombe hin: „There was [...] a general feeling for the importance
of conscience as providing a subjective norm of morality and for intention as a source of moral-
ity, itself influencing the degree of merit or blame accorded to man by God.“ D. Luscombe in:
Peter Abelard’s Ethics, S. XVII.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften