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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0024
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2.1 Begriffliche Traditionen: Syneidesis, Conscientia, Synderesis, Gewissen 23

Nicht-Begriffs ist wohl der Daimon des Sokrates (f 399 v. Chr.)7, der funktional
als „wx-Dez-Gewissen8 begegnet. Otto Seel sprach in diesem Zusammenhang
von Gewissen als einem „Bedeutungslehnwort“, um zu veranschaulichen, dass
der Begriff zwar einen klaren Bedeutungsschwerpunkt besitzt, das damit Be-
zeichnete aber keineswegs ein exklusives Vermögen des modernen Menschen ist,
sondern „einen anthropologischen Sachverhalt bezeichnet“.9 Zwar blieb diese
Ansicht nicht unwidersprochen,10 allerdings kann die gegenteilige Sicht kaum
überzeugen. So wurde zum Beispiel für die mittelhochdeutsche Epik gezeigt,
dass sich Gewissensphänomene beschreiben lassen, auch ohne dass der konkrete
Begriff in der Volkssprache Verwendung fand.11
Doch sogar als sich der Begriff etabliert hatte und im ersten vorchristlichen
Jahrhundert - sei es lateinisch als conscientia, sei es griechisch als syneidesis - zur
Verfügung stand, ging mit ihm keine Bedeutungskonzentration einher, im Ge-
genteil: Vier Hauptbedeutungen gibt der Thesaurus linguae latinae für das latei-
nische conscientia, das seinerseits begriffsprägend auch für das griechische synei-
desis wurde:12 das von Vielen geteilte Wissen („communis complurium scientia“),
einen Zustand des Geistes, in dem man sich einer Sache bewusst ist („is animi
Status quo quis alicuius rei sibi ipse conscius est“), das Innere des Menschen („in-
tus hominis“) sowie das Wissen, die Kenntnis oder Lehre von sich („scientia,

7 Platon, Apologia 31c-d, 40. Vgl. R. Sorabji, Graeco Roman Origins, S. 372f.
8 Zum Begriff des „vox-Dei-Gewissens“ vgl. D. Rüdiger, Der Beitrag der Psychologie, S. 462.
9 O. Seel, Zur Vorgeschichte des Gewissens-Begriffes, S. 319. Vgl. mit ähnlicher Argumentation
und Begrifflichkeit auch M. Class, Gewissensregungen, S. 3f. Als Vertreter dieser Sichtweise
äußerte sich auch H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 18.
10 Vgl. U. Stebler, Entstehung und Entwicklung, S. llf.
11 Dieter Kartschoke verwies hier auf den Begriff der hescheidenheit, der als volkssprachliches
Pendant neben den der conscientia - der als ,terminus technicus‘ auch in die Vernakularsprache
übernommen wurde - getreten sei: D. Kartschoke, Der epische Held, S. 186-8. Vgl. hierzu
v. a. auch U. Störmer-Caysa, Gewissen und Buch, mit manchen Nuancierungen gegenüber
Kartschoke. Weitere Lehnübersetzungen von conscientia in das Mittelhochdeutsche bei
D. Kartschoke, Minneschmerzen, S. 148, Anm. 85.
12 Zur Frage der Unabhängigkeit des lateinischen conscientia von griechischen Begriffen vgl. v. a.
P. W. Schönlein, Zur Entstehung, sowie J.-G. Blühdorn, „ Gewissen“, S. 198-201. Johannes
Stelzenberger hat auf den bemerkenswerten Umstand hingewiesen, dass die Frequenz von
syneidesis und conscientia in den Werken des Origenes sehr verschieden ist: Während die grie-
chischen Schriften nur wenige Vorkommen des Terminus syneidesis und verwandter Formen
enthalten (bei denen es sich überdies zum allergrößten Teil wieder um Bibelzitate handelt),
begegnet conscientia in den lateinisch überlieferten Texten vergleichsweise häufig. J. Stelzen-
berger, Conscientia bei Origenes, S. 17.
 
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