34
2. Gegenstand: Das Gewissen
Zugleich gründet in einer solchen Sicht auch überhaupt erst die Möglichkeit, für
Normen auch allgemeine Anerkennung zu erwarten, insofern „die Maßstäbe, die
Handelnde zur Beurteilung ihrer eigenen Taten verwenden“, auch „von den
anderen für sich in Anspruch genommen werden können“77.
Doch avancierten Vernunft und Wille nicht nur im Bereich der hohen Schulen
des 12. und 13. Jahrhunderts zu Zentralbegriffen des Nachdenkens über das Ge-
wissen; ihnen kam ebenso in den hier im Fokus stehenden Texten monastischer
Prägung eine elementare Rolle zu. Eine Fülle organisationsbezogener Schrift-
lichkeit verweist auf ein hohes Maß rationaler und methodischer Planung des
gesamten klösterlichen Lebens. Die hier entwickelte Pragmatik im Umgang mit
den Herausforderungen der Welt war geradezu die ,begleitende Voraussetzung*,
die jenen zeittypischen Verinnerlichungsschub erst ermöglichte.78 Die Sorgen um
das richtige und angemessene Handeln, um den rechten Maßstab und die kor-
rekte Unterscheidung von Gut und Böse waren bestimmende Momente religiö-
sen Lebens. Sie waren Ausdruck einer praktischen Vernunft, mit der sich die
Nonnen und Mönche, die Kanoniker und Eremiten auch und vor allem ihrem
Gewissen und damit ihrem Seelenheil widmeten. Eine Fülle von Texten legt hier-
von Zeugnis ab.
Anders jedoch als im Rahmen des schulphilosophischen Nachdenkens stan-
den innerhalb dieser Werke nicht allgemeine Prinzipien auf dem Prüfstand, son-
dern Vernunft wie Wille waren von Bedeutung, insofern sie den Einzelnen in
seinem Streben nach Selbst- und (auf dieser gründend) nach Gotteserkenntnis
betrafen. Gegenüber diesen beiden Zielen waren alle anderen nachgeordnet. Die
Frage nach dem Gewissen war für die vita religiosa in erster Linie eine praktisch-
seelsorgende. Religiöse sahen sich, im Bewusstsein ihrer Schuld, einem allwissen-
den Gott gegenüber, der sie ebenso, ja besser kannte als sie sich selbst.79 Ein sol-
ches Mitwissen, ebenso con-scire wie auch con-scientia, um das Wissen Gottes
prägte das Bewusstsein jener Frauen und Männer in besonderem Maße. Ihre
scientia, die sie mit Gott teilten, war das Wissen um ihre Schuld.
Die Begründung hierfür hatte Paulus mit seiner Mahnung an die Korinther
gelegt: „Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht; prüft euch selbst!“ (II Cor
77 B. Hennig, Conscientia, S. 137.
78 Vgl. G. Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung', G. Melville, Im Spannungsfeld', zur
Bedeutung der Schriftlichkeit für diese Entwicklung vgl. K. Schreiner, Verschriftlichung und
G. Melville, Zur Funktion der Schriftlichkeit.
79 „Wer fest an einen Gott glaubt, dem auch die den Mitmenschen verborgenen oder geflissentlich
ignorierten Übeltaten nicht entgehen können und der den Christen nach seinem Tod dafür
strafen wird, hat allen Grund, so etwas wie autonomes Gewissen, ein sich selbst überwachendes
Bewusstsein zu entwickeln.“ M.-S. Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung, S. 114. Vgl. zu den
Implikationen für die vita religiosa v. a. G. Melville, Im Zeichen der Allmacht.
2. Gegenstand: Das Gewissen
Zugleich gründet in einer solchen Sicht auch überhaupt erst die Möglichkeit, für
Normen auch allgemeine Anerkennung zu erwarten, insofern „die Maßstäbe, die
Handelnde zur Beurteilung ihrer eigenen Taten verwenden“, auch „von den
anderen für sich in Anspruch genommen werden können“77.
Doch avancierten Vernunft und Wille nicht nur im Bereich der hohen Schulen
des 12. und 13. Jahrhunderts zu Zentralbegriffen des Nachdenkens über das Ge-
wissen; ihnen kam ebenso in den hier im Fokus stehenden Texten monastischer
Prägung eine elementare Rolle zu. Eine Fülle organisationsbezogener Schrift-
lichkeit verweist auf ein hohes Maß rationaler und methodischer Planung des
gesamten klösterlichen Lebens. Die hier entwickelte Pragmatik im Umgang mit
den Herausforderungen der Welt war geradezu die ,begleitende Voraussetzung*,
die jenen zeittypischen Verinnerlichungsschub erst ermöglichte.78 Die Sorgen um
das richtige und angemessene Handeln, um den rechten Maßstab und die kor-
rekte Unterscheidung von Gut und Böse waren bestimmende Momente religiö-
sen Lebens. Sie waren Ausdruck einer praktischen Vernunft, mit der sich die
Nonnen und Mönche, die Kanoniker und Eremiten auch und vor allem ihrem
Gewissen und damit ihrem Seelenheil widmeten. Eine Fülle von Texten legt hier-
von Zeugnis ab.
Anders jedoch als im Rahmen des schulphilosophischen Nachdenkens stan-
den innerhalb dieser Werke nicht allgemeine Prinzipien auf dem Prüfstand, son-
dern Vernunft wie Wille waren von Bedeutung, insofern sie den Einzelnen in
seinem Streben nach Selbst- und (auf dieser gründend) nach Gotteserkenntnis
betrafen. Gegenüber diesen beiden Zielen waren alle anderen nachgeordnet. Die
Frage nach dem Gewissen war für die vita religiosa in erster Linie eine praktisch-
seelsorgende. Religiöse sahen sich, im Bewusstsein ihrer Schuld, einem allwissen-
den Gott gegenüber, der sie ebenso, ja besser kannte als sie sich selbst.79 Ein sol-
ches Mitwissen, ebenso con-scire wie auch con-scientia, um das Wissen Gottes
prägte das Bewusstsein jener Frauen und Männer in besonderem Maße. Ihre
scientia, die sie mit Gott teilten, war das Wissen um ihre Schuld.
Die Begründung hierfür hatte Paulus mit seiner Mahnung an die Korinther
gelegt: „Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht; prüft euch selbst!“ (II Cor
77 B. Hennig, Conscientia, S. 137.
78 Vgl. G. Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung', G. Melville, Im Spannungsfeld', zur
Bedeutung der Schriftlichkeit für diese Entwicklung vgl. K. Schreiner, Verschriftlichung und
G. Melville, Zur Funktion der Schriftlichkeit.
79 „Wer fest an einen Gott glaubt, dem auch die den Mitmenschen verborgenen oder geflissentlich
ignorierten Übeltaten nicht entgehen können und der den Christen nach seinem Tod dafür
strafen wird, hat allen Grund, so etwas wie autonomes Gewissen, ein sich selbst überwachendes
Bewusstsein zu entwickeln.“ M.-S. Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung, S. 114. Vgl. zu den
Implikationen für die vita religiosa v. a. G. Melville, Im Zeichen der Allmacht.