52
2. Gegenstand: Das Gewissen
Der Verfasser unterschied hier zunächst zwischen einer „conscientia formata“
und einer „conscientia indiscreta“.143 Während mit formata ein Gewissen be-
zeichnet wurde, das sich durch Vernunfturteile auszeichnete,144 wurden unter
dem Begriff der „conscientia indiscreta“, des „unentschiedenen Gewissens“, jene
Zustände zusammengefasst, die eine sichere Schlussfolgerung unmöglich mach-
ten: ein allzu weites, freigiebiges („nimis larga“) oder ein allzu enges („nimis
stricta“) Gewissen. Das allzu weite Gewissen würde zum einen unbegründete
Hoffnungen wecken, zum anderen leichthin Schlechtes gut nennen. Das allzu
enge Gewissen hingegen führe zu Verzweiflung und verdamme, was heilsam
sei.145 Wer ein solches Gewissen besitzt, der würde Sünden sehen, wo keine seien.
Eine solche Selbstsicht erfuhr dabei durchaus ambivalente Bewertungen, war sie
doch nicht nur Ausdruck eines unvollkommenen Gewissens, sondern eben auch
einer höchster Demut.146 Als Resultat einer intensivierten Beichtkultur erwuchs
die in einem engen Gewissen verkörperte scrupulositas zu einem weit verbreite-
ten Phänomen im späten Mittelalter.147 Und noch in der Frühen Neuzeit sahen
sich Beichtväter mit solchen Nöten konfrontiert: So riet der Jesuit Franz Hunolt
(f 1746) denjenigen, die seiner Ansicht nach tatsächlich nichts zu beichten hatten,
in ihrer Not einfach das zu beichten, was sie beim letzten Mal bekannt hätten, um
nicht die Zeit mit unnützem Suchen zu verschwenden.148 Solche Gewissen irrten,
143 Compendium theologiae, Sp. 400.
144 „Conscientia etenim [...] formata, est quando finaliter, idest post discussionem et deliberatio-
nem ex definitiva sententia rationis judicatur et firmatur aliquid esse faciendum aut prosequen-
dum, vel non faciendum aut vitandum.“ Ebd., Sp. 400.
145 Unter dem Stichwort „De conscientia indiscreta“ ist zu lesen: „Notare solent aliqui conscien-
tiam nimis larga, et etiam nimis strictam cavendum fore [...] Unam scilicet quia conscientia ni-
mis larga generat praisumptionem, nimis vero stricta desperationem. Aliam, quia conscientia
nimis larga frequenter illud quod est malum, dicit bonum: nimis vero stricta e contrario ssepe
damnat salvandum [...].“ Ebd.
146 Sven Grosse verwies auf die Wirkmacht und Verbreitung einer Gregor dem Grossen zuge-
schriebenen Sentenz: „Bonarum mentium est ibi culpam agnoscere, ubi culpa non est.“
S. Grosse, Heilsungewißheit, S. 54,121f., 170.
147 Vgl. P. Dinzelbacher, Das erzwungene Individuum, S. 448f. Differenzierend: B. Hamm,
Theologie und Frömmigkeit, S. 258, der die „skrupulöse Trostebedürftigkeit“ v. a. für ein „Pro-
blem der obervanten Klöster“ hält.
148 „Habt ihr ein mercklich freywillige läßliche Sünd begangen; wohl! dise beichtet, wann ihr
wolt; habt ihr deren keine; so sagt eure gewöhnliche geringe Mängel, welche ohnedem doch
allzeit pflegen wieder zu kommen: dise aber könnt ihr in währendem Gehen nach der Kirch
besser und nützlicher bedencken, als nachgehends in dem verwirrten Examen: Klagt euch dar-
beyneben, wie oben gemeldet, auf das neu an wegen einer vorigen Sünd, die dem Beicht-Vatter
bekannt, und hierüber befleisset euch eine rechtschaffne Reu und Vorsatz zu erneuren; alsdann
habt ihr die kostbare Zeit zum Dienst Gottes weit besser gebraucht, als zuvor mit dem langen
unnützlichen Nachgrübeln.“ F. Hunolt, Neunzehende Predig. Von der Beschaffenheit der
Erforschung des Gewissens, 2. Theil, in: Christliche Sitten-Lehr, 3. Theil: Büssender Christ,
2. Gegenstand: Das Gewissen
Der Verfasser unterschied hier zunächst zwischen einer „conscientia formata“
und einer „conscientia indiscreta“.143 Während mit formata ein Gewissen be-
zeichnet wurde, das sich durch Vernunfturteile auszeichnete,144 wurden unter
dem Begriff der „conscientia indiscreta“, des „unentschiedenen Gewissens“, jene
Zustände zusammengefasst, die eine sichere Schlussfolgerung unmöglich mach-
ten: ein allzu weites, freigiebiges („nimis larga“) oder ein allzu enges („nimis
stricta“) Gewissen. Das allzu weite Gewissen würde zum einen unbegründete
Hoffnungen wecken, zum anderen leichthin Schlechtes gut nennen. Das allzu
enge Gewissen hingegen führe zu Verzweiflung und verdamme, was heilsam
sei.145 Wer ein solches Gewissen besitzt, der würde Sünden sehen, wo keine seien.
Eine solche Selbstsicht erfuhr dabei durchaus ambivalente Bewertungen, war sie
doch nicht nur Ausdruck eines unvollkommenen Gewissens, sondern eben auch
einer höchster Demut.146 Als Resultat einer intensivierten Beichtkultur erwuchs
die in einem engen Gewissen verkörperte scrupulositas zu einem weit verbreite-
ten Phänomen im späten Mittelalter.147 Und noch in der Frühen Neuzeit sahen
sich Beichtväter mit solchen Nöten konfrontiert: So riet der Jesuit Franz Hunolt
(f 1746) denjenigen, die seiner Ansicht nach tatsächlich nichts zu beichten hatten,
in ihrer Not einfach das zu beichten, was sie beim letzten Mal bekannt hätten, um
nicht die Zeit mit unnützem Suchen zu verschwenden.148 Solche Gewissen irrten,
143 Compendium theologiae, Sp. 400.
144 „Conscientia etenim [...] formata, est quando finaliter, idest post discussionem et deliberatio-
nem ex definitiva sententia rationis judicatur et firmatur aliquid esse faciendum aut prosequen-
dum, vel non faciendum aut vitandum.“ Ebd., Sp. 400.
145 Unter dem Stichwort „De conscientia indiscreta“ ist zu lesen: „Notare solent aliqui conscien-
tiam nimis larga, et etiam nimis strictam cavendum fore [...] Unam scilicet quia conscientia ni-
mis larga generat praisumptionem, nimis vero stricta desperationem. Aliam, quia conscientia
nimis larga frequenter illud quod est malum, dicit bonum: nimis vero stricta e contrario ssepe
damnat salvandum [...].“ Ebd.
146 Sven Grosse verwies auf die Wirkmacht und Verbreitung einer Gregor dem Grossen zuge-
schriebenen Sentenz: „Bonarum mentium est ibi culpam agnoscere, ubi culpa non est.“
S. Grosse, Heilsungewißheit, S. 54,121f., 170.
147 Vgl. P. Dinzelbacher, Das erzwungene Individuum, S. 448f. Differenzierend: B. Hamm,
Theologie und Frömmigkeit, S. 258, der die „skrupulöse Trostebedürftigkeit“ v. a. für ein „Pro-
blem der obervanten Klöster“ hält.
148 „Habt ihr ein mercklich freywillige läßliche Sünd begangen; wohl! dise beichtet, wann ihr
wolt; habt ihr deren keine; so sagt eure gewöhnliche geringe Mängel, welche ohnedem doch
allzeit pflegen wieder zu kommen: dise aber könnt ihr in währendem Gehen nach der Kirch
besser und nützlicher bedencken, als nachgehends in dem verwirrten Examen: Klagt euch dar-
beyneben, wie oben gemeldet, auf das neu an wegen einer vorigen Sünd, die dem Beicht-Vatter
bekannt, und hierüber befleisset euch eine rechtschaffne Reu und Vorsatz zu erneuren; alsdann
habt ihr die kostbare Zeit zum Dienst Gottes weit besser gebraucht, als zuvor mit dem langen
unnützlichen Nachgrübeln.“ F. Hunolt, Neunzehende Predig. Von der Beschaffenheit der
Erforschung des Gewissens, 2. Theil, in: Christliche Sitten-Lehr, 3. Theil: Büssender Christ,