4.5 Aspekte des Textes
167
sehen qualifizierend zu erfassen. Der Zustand der conscientia kann in diesem
Sinne immer auch als Indikator für Gottesnähe oder auch -ferne verstanden wer-
den, ist sie doch - wenn gut und ruhig - gleichsam Ausdruck einer Orientierung
am Vorbild Jesu, der, wie De quattuor modis conscientiarum hervorhebt, als
einziger Mensch ohne Sünde ist.269
Wenn Sünde zugleich als Anzeichen der Entfernung des Menschen von Gott
verstanden wird und die Qualität der conscientia wiederum als Maß seiner Got-
tesnähe, dann ist diese conscientia auch ganz unmittelbar mit der An- wie auch
Abwesenheit von Sünde verknüpft; cCspeccatum ist eben jene Befleckung, welche
däepuntas conscientiae verunreinigt. Die conscientia jedoch, insofern sie das Wis-
sen des Menschen mit jenem Gottes in Verbindung setzt, eröffnet dem Menschen
auch den Blick auf sich selbst: Er soll an sich selbst erkennen, worin er gut und
worin er schlecht gedacht, geredet oder getan hat. Sein Handeln ist ihm aber nicht
allein als Handeln bewusst, sondern er ist gehalten, dieses auch zu bewerten und
zu beurteilen: Der Mensch muss versuchen, eben jene Rollen zu besetzen, die
auch Gott erfüllt, er muss das Zeugnis seines Gewissens abrufen, er muss - in den
Worten des Wilhelm von St. Thierry - ,lernen, sich selbst zu beurteilen, sich bei
sich anzuklagen, oft auch zu verurteilen und nicht ungestraft freizulassen/270
Conscientia in diesem Sinne bezeichnet dabei immer die nachfolgende Bewer-
tung des Geschehenen, noch nicht aber fungiert sie als moralischer Wegweiser
künftigen Handelns.
Dass es sich hierbei um ein Idealmodell handelt, hebt auch der Traktat eindring-
lich hervor: Selbst Paulus habe nämlich bei der Prüfung seines Gewissens versagt:
„deficit igitur apostolus scrutans scrutinio conscientiam suam“ (S. 184, Z. 14f.).
Den Grund hierfür sieht der Text nicht zuletzt in einer Schwäche der Selbster-
kenntnis des Paulus, die dessen conscientia von jener Gottes verschieden sein lässt:
Gott nämlich kenne Paulus besser als der sich selbst. Und dies nicht allein, weil
Gott der Kenner aller Geheimnisse ist, sondern auch - wie der Traktat den Paulus
andeuten lässt - weil dieser seinem eigenen Urteil ausgewichen sei.271 Dabei könne
269 Vgl. unten cap. II.l, S. 186, Z. 15.
270 „Disce [...] secundum communis instituti leges tibi tu praeesse, vitam ordinäre, mores compo-
nere, temetipsum iudicare, teipsum apud teipsum accusare, saepe etiam et condemnare, nec
impunitum dimittere.“ Wilhelm von St. Thierry, Epistola aurea, 107, S. 250f.
271 „Quod enim operor, non intelligo. Etsi enim exii iudicium mundi, iudicium mei, restat tarnen
iudicium Dei, quod me non sinit intelligere, quod operor, quia nescio, si acceptet, quod operor.
Ipse enim melius novit me quam ego me scrutans renes et corda, occultorum cognitor, pertin-
gens ad divisionem anime et Spiritus, qui solus novit omnia et omnium rationes.“ De quattuor
modis conscientiarum, cap. I, S. 180, Z. 10-5. Zum Zusammenhang dieser ent-idealisierenden
Sicht auf Paulus im Traktat im Vergleich zu jener im Werk des Bernhard von Clairvaux vgl.
J. Müller, Willensschwäche, S. 457-63. Zum Aspekt der Allwissenheit Gottes, auch mit Bezug
auf De quattuor modis conscientiarum, G. Melville, Im Zeichen der Allmacht.
167
sehen qualifizierend zu erfassen. Der Zustand der conscientia kann in diesem
Sinne immer auch als Indikator für Gottesnähe oder auch -ferne verstanden wer-
den, ist sie doch - wenn gut und ruhig - gleichsam Ausdruck einer Orientierung
am Vorbild Jesu, der, wie De quattuor modis conscientiarum hervorhebt, als
einziger Mensch ohne Sünde ist.269
Wenn Sünde zugleich als Anzeichen der Entfernung des Menschen von Gott
verstanden wird und die Qualität der conscientia wiederum als Maß seiner Got-
tesnähe, dann ist diese conscientia auch ganz unmittelbar mit der An- wie auch
Abwesenheit von Sünde verknüpft; cCspeccatum ist eben jene Befleckung, welche
däepuntas conscientiae verunreinigt. Die conscientia jedoch, insofern sie das Wis-
sen des Menschen mit jenem Gottes in Verbindung setzt, eröffnet dem Menschen
auch den Blick auf sich selbst: Er soll an sich selbst erkennen, worin er gut und
worin er schlecht gedacht, geredet oder getan hat. Sein Handeln ist ihm aber nicht
allein als Handeln bewusst, sondern er ist gehalten, dieses auch zu bewerten und
zu beurteilen: Der Mensch muss versuchen, eben jene Rollen zu besetzen, die
auch Gott erfüllt, er muss das Zeugnis seines Gewissens abrufen, er muss - in den
Worten des Wilhelm von St. Thierry - ,lernen, sich selbst zu beurteilen, sich bei
sich anzuklagen, oft auch zu verurteilen und nicht ungestraft freizulassen/270
Conscientia in diesem Sinne bezeichnet dabei immer die nachfolgende Bewer-
tung des Geschehenen, noch nicht aber fungiert sie als moralischer Wegweiser
künftigen Handelns.
Dass es sich hierbei um ein Idealmodell handelt, hebt auch der Traktat eindring-
lich hervor: Selbst Paulus habe nämlich bei der Prüfung seines Gewissens versagt:
„deficit igitur apostolus scrutans scrutinio conscientiam suam“ (S. 184, Z. 14f.).
Den Grund hierfür sieht der Text nicht zuletzt in einer Schwäche der Selbster-
kenntnis des Paulus, die dessen conscientia von jener Gottes verschieden sein lässt:
Gott nämlich kenne Paulus besser als der sich selbst. Und dies nicht allein, weil
Gott der Kenner aller Geheimnisse ist, sondern auch - wie der Traktat den Paulus
andeuten lässt - weil dieser seinem eigenen Urteil ausgewichen sei.271 Dabei könne
269 Vgl. unten cap. II.l, S. 186, Z. 15.
270 „Disce [...] secundum communis instituti leges tibi tu praeesse, vitam ordinäre, mores compo-
nere, temetipsum iudicare, teipsum apud teipsum accusare, saepe etiam et condemnare, nec
impunitum dimittere.“ Wilhelm von St. Thierry, Epistola aurea, 107, S. 250f.
271 „Quod enim operor, non intelligo. Etsi enim exii iudicium mundi, iudicium mei, restat tarnen
iudicium Dei, quod me non sinit intelligere, quod operor, quia nescio, si acceptet, quod operor.
Ipse enim melius novit me quam ego me scrutans renes et corda, occultorum cognitor, pertin-
gens ad divisionem anime et Spiritus, qui solus novit omnia et omnium rationes.“ De quattuor
modis conscientiarum, cap. I, S. 180, Z. 10-5. Zum Zusammenhang dieser ent-idealisierenden
Sicht auf Paulus im Traktat im Vergleich zu jener im Werk des Bernhard von Clairvaux vgl.
J. Müller, Willensschwäche, S. 457-63. Zum Aspekt der Allwissenheit Gottes, auch mit Bezug
auf De quattuor modis conscientiarum, G. Melville, Im Zeichen der Allmacht.