Metadaten

Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0169
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
168

4. Der Traktat De quattuor modis conscientiarum

niemand vor sich selbst fliehen („nemo potest se ipsum fugere“), wie der Traktat
Vom inneren Haus in augustinischer Tradition eindrücklich formuliert.272
Zugleich hebt De quattuor modis conscientiarum entschieden die Bedeutung
und Wertigkeit willentlichen Handelns hervor: Jede Form der conscientia sei, so
heißt es, Resultat eines Willensaktes.273 Und bereits der Wille, nicht zu sündigen,
sei ausreichend, um das eigene Gewissen zu reinigen.274 Paulus, so vermerkt der
Text mit durchaus kritischem Unterton, der so viel Großes gesagt hätte, würde
genau hiervon schweigen: vom eigenen Willen nämlich, der doch aber Ursache
der Erlösung wie der Verdammnis sei.275 Sich über das eigene Wollen Rechen-
schaft zu geben, war folglich eine zentrale Aufgabe, der sich der Mensch zugleich
mit der der Erforschung seines Gewissens zu stellen hatte.
De quattuor modis conscientiarum entstand noch vor der fundamentalen
Wende, die mit dem Konzil von 1215 und der hier promulgierten allgemeinen
Verpflichtung zur Beichte einherging.276 Zwar bestand die Pflicht zum Sünden-
bekenntnis schon zuvor,277 Martin Ohst wies jedoch darauf hin, dass die hierfür
ins Feld geführten Belege „kein allgemeingültiges kategorisches Gebot der peri-
odischen Pflichtbeichte“278 bezeugen, sondern, sofern sie nicht auf die Sonder-
welt der vita religiosa bezogen waren, stets nur regionale Geltung beanspruchen
konnten. Insofern der Traktat jedoch diesem Milieu der klösterlichen Welt ent-
stammt, kann es kaum wundernehmen, wenn die Beichte als Sündenbewälti-
gungsstrategie bereits als selbstverständlich thematisiert wurde: „Die Erde wird
bewegt“, heißt es eindrücklich mit Bezug auf Psalm 59, „wenn der Sünder beich-
tet und bereut.“279 Die Beichte eigener Verfehlungen und die mit ihr auf das

272 De interiori domo, cap. XXV (52), Sp. 543 C. Zu entsprechenden Gedanken bei Augustinus
vgl. E. Hirsch, Luther Studien, Bd. 1, S. 61 f., 66.
273 „Hü sunt quattuor conscientiarum rivi de voluntatis fonte currentes [...].“ De quattuor modis
conscientiarum, cap. II.4, vgl. unten, S. 202, Z. 17.
274 „Porro ei, qui voluntatem habet non peccandi, et custodire pedes suos a lapsu, qui commissa
preteriti temporis et plangit et punit, qui malignos cogitatus allidendo ad Christum respuit, hoc
tanquam triplici funiculo strictus atque constrictus conscientiam habet purificatam et puram.“
Ebd., cap. II.l, vgl. unten, S. 188, Z. 19—S. 190, Z. 2.
275 „Et cum tot et tanta dixisset, unum, videlicet propriam voluntatem, reticuit, que salvationis et
dampnationis est causa.“ Ebd., cap. I, vgl. unten. S. 184, Z. 9f.
276 Vgl. M. Ohst, Pflichtbeichte-, sowie im Zusammenhang einer umfassenden Untersuchung der
europäischen „Schuldkultur“ J. Delumeau, Sin and Fear, S. 197f. und passim. Zur Kritik an
Delumeau und seiner Deutung vgl. A. Bähr, Die Furcht der Frühen Neuzeit.
277 Vgl. P. Browe, Pflichtbeichte, S. 342f. Winfried Trusen hält die Bestimmung von 1215 sogar
nur für eine „Minimalforderung“, W. Trusen, Zur Bedeutung, S. 258.
278 M. Ohst, Pflichtbeichte, S. 14-31, das Zitat ebd., S. 31.
279 „Commovetur terra cum peccator confitetur et penitet [...].“ De quattuor modis conscienti-
arum, cap. II.2, vgl. unten, S. 192, Z. 6f.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften