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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0257
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6. Rezeptionen und Wirkungen

schreibt er, dass das Gewissen bei jenen ruhig, aber nicht gut sei, die in Vermes-
senheit sündigen und in ihren Herzen sprechen würden, dass Gott keine Rechen-
schaft fordere, was insbesondere bei solchen vorkomme, die dem Alter oder den
Sitten nach noch jung seien.110 Man könne diejenigen, die ein derartiges Gewissen
besäßen, mit Besessenen oder Wahnsinnigen vergleichen, deren Krankheit auch
deshalb so groß und überaus gefährlich wäre, weil sie kein Heilmittel zulassen
würden. Ein solches ruhiges, aber nicht gutes Gewissen hätten diejenigen, die aus
ebenso außergewöhnlicher wie auch erstrebter Unwissenheit nicht wissen woll-
ten, wie sie gut handeln könnten, und die daher oft in der Kammer ihres Gewis-
sens nach Sünden trachteten, wobei sie wegen ihrer Unwissenheit gar nicht er-
kennen würden, dass ihr Tun Sünde sei.111
Zwei Punkte sind hier in besonderer Weise bemerkenswert: zum einen der von
Nider in die Diskussion eingebrachte Faktor der Unwissenheit, zum anderen -
mit dem ersten eng verbunden - die ausgesprochen moderate Argumentation,
mit der er denjenigen begegnet, der eine solche in Unwissenheit gründende con-
scientia besitzen, und diese gerade nicht verdammte. Der Verweis auf die igno-
rantia als mögliche Ursache eines objektiv schlechten Gewissens - das gleich-
wohl subjektiv für gut gehalten werden mag - bezieht sich zweifellos auf die
Ausführungen des Thomas von Aquin - näherhin die Quaestio 17 in dessen
Abhandlung Über die Wahrheit - in denen sich Niders Ordensbruder Fragen
der Verbindlichkeit von Gewissenentscheidungen vor dem Hintergrund der Ver-
106 Zu Herolts Bezugnahme vgl. nachfolgend Anm. 114. Zu Rudners Empfehlung vgl. unten
S. 282.
107 Zu ihm vgl. U. Israel, Johannes Geiler von Kaysersberg, sowie R. Voltmer, Wie der Wächter.
108 Es handelt sich hierbei um die von Geilers Neffen und Nachfolger im Amt des Straßburger
Münsterpredigers, Peter Wickram (f 1540), herausgegebene Ausgabe der Sermones varii et trac-
tatus. Die Sermones de pusillanimitate, ebd., CXXIV-CXXXIIV. Sie sind nach Angaben Wickrams
im Advent 1505 in Straßburg gehalten worden (ebd., CXXIV). Zu ihnen vgl. auch die Angaben bei
R. Voltmer, Wie der Wächter, S. 884, n° 54. Zu Peter Wickram vgl. ebd., S. 94-8.
109 „Questio est. An equaliter sit conscientia in omnibus. Respondeo quod non. Nam reperitur
septuplex conscientia.“ J. Geiler von Kaysersberg, Sermones de pusillanimitate, Sermo III,
CXXXP.
110 „Quarta conscientia est tranquilla sed non bona eorum qui peccant sub spe venie tandem con-
sequende vel dicunt in corde [Ich setze hier corde statt corpore und folge damit der Ausgabe
Köln: 1473] suo quia Deus non requiret ista quäl em conscientiam nonnumquam habent iuvenes
etate vel moribus [...].“ J. Nider, Consolatorium timorate conscientie, lib. I, cap. 3. Vgl. oben
S. 61, Anm. 7.
111 „Assimilantur tales tranquillam conscientiam sibi formantes maniacis et freneticis quorum in-
firmitas est ideo maxima seu periculosissima quia medicine remedia nec admittunt nec agnosc-
unt. [...] Talern etiam conscientiam habent hi, qui vel ex crassa ignorancia, vel ex affectata
nolunt scire ut bene agant et ideo iniquitatem sepe meditantur in cubili sue conscientie, quam
tarnen iniquitatem propter ignorantiam nequeunt agnoscere.“ Ebd. Zum Bild der „Kammer des
Gewissens“ vgl. meine Studie Das ,Haus Des Gewissens1.
 
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