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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0260
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6.2 Bearbeitungen, Zitate und Paraphrasen

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sich sehr vielseitig präsentiert121 einem anderen Verfasser zuwies. Zwar ist das
zweite Textstück auch in der erweiterten Fassung (L) von De quattuor modis
conscientiarum enthalten - dass Nider diesen Text kannte, ist jedoch unwahr-
scheinlich, da seine Referenzen, wie dargestellt, recht deutlich auf die bernhardi-
sche Predigt bezogen sind.122
An Niders Traktat lassen sich somit im Detail die Unübersichtlichkeiten
geistlicher Literatur des Hohen und Späten Mittelalters beobachten. Die bei ihm
anzutreffende Verwirrung im Hinblick auf Werkzuschreibungen ist bereits für
sich genommen interessant und aussagekräftig, insofern sie zeitgenössisches
Wissen um Texte und ihre vermeintlichen Urheber sichtbar macht.
b) 15. Jahrhundert
Bei den nachfolgend vorzustellenden Texten handelt es sich ausnahmslos um
Predigten. Sie sind typisch für eine Zeit, in der für dieses Medium eine Professi-
onalisierung seiner Protagonisten ebenso erkennbar ist wie eine Differenzierung
der Formen.123 Die Zahl der Anlässe zum Predigen nahm zu, und die Verkündi-
gung löste sich vermehrt von der Messfeier. Angebot wie auch Bedarf an Predig-
ten stiegen dabei, ohne dass zu sagen wäre, welcher der beiden Faktoren hierfür
ursächlich war.124 Die Zeit war zugleich geprägt durch eine zunehmende Erlö-
sungsungewissheit, die mit einem gesteigerten Bemühen um einen direkten und
unmittelbaren Zugang zum Heil einherging. Ein Phänomen, das von Berndt
Hamm als Antwort der „nahen Gnade“ auf die „nahe Ungnade“ gedeutet und
beschrieben wurde.125
Gleichartige Korrespondenzen können im späten Mittelalter auch für den
Bereich des menschliche Gewissens festgestellt werden: Eine Steigerung der
Beichtfrequenz ging mit einer neuen Aufmerksamkeit für die Gewissenserfor-
schung einher126 - ein Zusammenhang, der gut mit dem von Hamm gegebenen
Erklärungsmuster beschrieben werden kann. Das seelsorgerliche Angebot an
Predigten, Meßfeiern und Beichten, nahm ebenso zu wie die religiösen Bedürf -
121 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Der Traktat vom ,Inneren Haus‘, S. 266-71.
122 Vgl. die vorangehenden Anm. 110 und 118.
123 Vgl. W. Faulstich, Medien zwischen Herrschaft und Revolte, S. 144f.
124 Zu den Predigtanlässen vgl. L. Taylor, Soldiers of Christ, S. 16-20.
125 „Die nahe Gnade ist eine Antwort auf die nahe Ungnade. Der sich ohnmächtig fühlende
Mensch, der mit schrecklichen Nahdimensionen von Sterben-Müssen, Lebenskürze, Sünden-
macht, teuflisch-dämonischen Attacken, strafenden Zornespfeilen Gottes, unerbittlicher Ge-
richtsstrenge und furchtbaren postmortalen Qualen konfrontiert wird, sucht Halt in einer ihm
hilfreich nahekommenden Gnade.“ B. Hamm, Die „nahe Gnade“, S. 547f.
126 Vgl. hierzu P. Browe, Die Pflichtbeichte, S. 346f.
 
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