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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0287
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6. Rezeptionen und Wirkungen

All diese Fälle würden, so ist zu lesen, in der Gruppe jener zu finden seien, die
eine conscientia mala et peccata besitzen und deshalb gleichsam sündigen, ohne
dies zu wissen. Neben ihnen gebe es jedoch auch diejenigen, denen es egal wäre,
ob sie Gott herausforderten - das seien jene, die glaubten, dass sie ungestraft
sündigen könnten.251 Ihre Gruppe sei wiederum zu scheiden in diejenigen, die ob
der Vielzahl ihrer Sünden verzweifelten und jene, die überhaupt nicht an das
Urteil Gottes und sein Kommen glaubten.
Auf diese Differenzierung folgen ausführliche Bemerkungen zu vier verschie-
denen Arten von Verletzungen, die das Gewissen erleiden könne („De quadru-
plici genere conscientiarum lesarum“), und den Narben, die aus diesen erwach-
sen („De multiplici genere cicatricum“), bevor sich Raulin der dritten Gruppe
widmet: jenen die - in Anlehnung an I Tim 4.2 - ein gebrandmarktes Gewissen
(„conscientia cauteriata“) besäßen. Ein solches sei denen eigen, die sich aufgrund
von Kleinigkeiten ein Gewissen machten, sich um die großen und eigentlichen
Sünden aber nicht kümmern würden. Solche Menschen würden sich um Nichtig-
keiten sorgen, das, was wichtig sei, jedoch vernachlässigen.252 Zugleich verortete
sich Raulin damit in jener Paulinischen Tradition, die dem Gewissen einen orga-
nischen Charakter zuwies, insofern er es in seiner Stofflichkeit als zeichen-
tragend deutete.253
Dieses hier nur in seiner Grundstruktur wiedergegebene Schema wird von
Raulin argumentativ mit Texten der Bibel und alltagsbekannten Beispielen breit
unterfüttert. Auffällig ist dabei jedoch eine deutliche Zurückhaltung gegenüber
solchen Bezugstexten, die nicht dem biblischen Kanon entstammen. Es finden
sich so gut wie keine Verweise darauf, dass ein Philosoph oder ein Theologe, sei
er eine zeitgenössische oder historische Autorität, Gleiches oder Ähnliches ge-
schrieben oder gesagt habe. So gibt es denn auch innerhalb der beiden hier im
Fokus stehenden Predigten keinen Hinweis auf Bernhard von Clairvaux oder
die entsprechenden pseudo-bernhardischen Texte, obwohl dieser in anderen
Schriften (und selbst im gleichen Predigtzyklus254) durchaus zu den von Raulin
häufig zitierten Autoren zählt.255
Nicht zuletzt durch die dank zahlreicher Druckausgaben weite Verbreitung
seiner Fastenpredigten muss Jean Raulin zu den wichtigen Distributoren des
251 „Secunda istorum differentia est qui se sciunt Deum offendere: sed ita depravati sunt: quod pro
nihilo peccare ducunt.“ Ebd.
252 „Tertia istorum differentia est qui conscientias cauteriatas habent qui de parvis conscientiam
faciunt; de magnis vero peccatis non curant.“ Ebd., cxvnv- cxvinr.
253 Vgl. zur Referenz im ersten Timotheusbrief R. Lindemann, Der Begriff der conscience, S. 20.
254 Vgl. z. B. in J. Raulin, Sermones quadragesimales, Sermo IX, xxvur-v die Hinweise auf Bern-
hard von Clairvaux. Hier greift Raulin umfangreich auf De interiori domo zurück.
255 Vgl. auch J.-M. Le Gall, Les moines au temps, S. 202f.
 
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