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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0387
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6. Rezeptionen und Wirkungen

Der konkrete Zusammenhang, in dem Jankelevitch diese Passage verortete,
war seine Beschäftigung mit der Frage, ob das schlechte Gewissen wirksam sei
(„Si la mauvaise conscience est efficace“). Er erklärte hier das Gewissen gleich-
sam zum Indikator der Moralität des Lebens: So lange der Mensch noch Scham
und seelischen Schmerz empfinden könne, sei er zur Besserung befähigt. Die
größte Verzweiflung wäre es, so Jankelevitch unter Berufung auf Kirkegaard
(f 1855), nicht mehr zu verzweifeln. Ein Gewissen, das in Anbetracht einer als
falsch erkannten Handlung nicht schmerzen würde, sei gleichsam tot. Ein sol-
cher Mensch hätte seine letzte Chance auf Erlösung aufgegeben, so Jankele-
vitch, der genau an dieser Stelle Bourdaloue und damit ,Bernhard‘ zitierte.693 694
Es sei daher ebenso unangemessen wie oberflächlich, Scham als etwas ausschließ-
lich Negatives zu verstehen. Dem Zitat selbst kommt bei ihm somit eine vorran-
gig illustrative Funktion zu, insofern es seine Argumentation nicht trägt, sondern
diese vor allem in der Formulierung pointiert.
Mit dieser Ergänzung erschien Jankelevitchs Text - wie eben bereits er-
wähnt - erstmals in der zweiten Auflage aus dem Jahr 1951, eine weitere folgte
1966; diese dritte Auflage wurde wiederum 1981 nachgedruckt. 1998 floss
La mauvaise conscience in eine Sammlung von moralphilosophischen Schriften
Jankelevitchs ein. Im Jahr 2015 schließlich erschien eine englische Übersetzung,
die überdies die Genese des Werkes seit 1933 nachvollziehbar darstellt, indem hier
die verschiedenen Überarbeitungsstufen des Textes ausgewiesen sind.
Jankelevitchs Rekurs auf das Konzept der vier Gewissensarten wurde
seinerseits wieder zum Bezugspunkt: So griff der französische Psychiater und
Psychologe Michel Lejoyeux in einer 2009 veröffentlichten Studie über Die Ge-
heimnisse unseres Verhaltens (Les secrets de nos comportements} indirekt, aber
ausdrücklich auf Jankelevitchs Ausführungen zurück, um sie als Fundierung
seiner Feststellung anzuführen, der zufolge Optimismus gesünder sei als Pessi-
mismus. Dies habe man bereits im Mittelalter gewusst, und die bei Bourdaloue
693 „Le plus grand desespoir, dit Kierkegaard, c’est de n’etre pas desespere; et de meme on pourrait
dire: le plus profond peche et le plus incurable, c’est de ne plus savoir souffrir, c’est d’avoir
rompu le dernier fil qui, dans notre decheance, nous rattachait encore ä la vie; les consciences
qui ont perdu ce talent precieux sont des consciences marecageuses, cyniques et dejä presque
mortes; elles ne peuvent meme plus avoir la fievre; elles ne savent plus desesperer fructueuse-
ment, jusqu’au bout, sans rien cacher; elles ont perdu jusqu’ä l’instinct de Conservation et se
laissent intoxiquer sans reagir; dans leur endurcissement ehonte elles ont oublie jusqu’au pou-
voir des larmes, elles renoncent ä leur derniere chance de salut!“ Vl. Jankelevitch, La mauvai-
se conscience (1966), S. 144f. Die hier platzierte Anmerkung vgl. oben S. 13, Anm. 8.
694 „Les optimistes vivent plus longtemps et en meilleure sante que les pessimistes. Les medecins
de l’Antiquite et du Moyen Age le savaient dejä. Le philosophe du xxe siede Vladimir Jankele-
vitch voyait en Louis Bourdaloue, un jesuite du xvne, un ancetre de la comprehension des effets
de l’etat d’äme. Pour Bourdaloue, nous sommes sous l’emprise de quatre sortes de conscience:
la bonne conscience (equivalent du paradis), la bonne conscience troublee (equivalent du pur-
 
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