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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0388
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6.2 Bearbeitungen, Zitate und Paraphrasen

387

zu findende Unterscheidung von vier Gewissensarten sei sehr angemessen - die
Geschichte hätte dem Jesuiten gerade in seiner Qualifizierung der verschiedenen
Gewissensformen als „Paradies“, „Fegefeuer“, „Hölle“ und Verzweiflung“ recht
gegeben.694 Für Lejoyeux fungierte das Motiv somit in erster Linie als ein histo-
risch fundierendes Exempel; es schien ihm geeignet, für seine Gegenwartsdiag-
nose schon Geltung in der Vormoderne zu behaupten.
Bereits zuvor, im Jahr 2006, war das eingangs zitierte Buch des Philosophen
Pascal Bruckner erschienen, in dem er sich direkt auf Jankelevitchs Rekurs auf
Bourdaloue und die vier Gewissensarten bezog.695 Bruckner vertritt mit seiner
Streitschrift vom Schuldkomplex eine Position, die innerhalb der zeitgenössischen
politischen Essayistik durchaus an Fahrt gewinnt.696 Die Stoßrichtung seines
Werkes richtet sich gegen eine Verabsolutierung von Schuld zum Zwecke des
Rückzugs aus der Verantwortung.697 Als Ziel eines solchen Bemühens erkennt
und beschreibt er eben die Beruhigung eines schlechten Gewissens.698
Damit nimmt Bruckner Stellung gegen Tendenzen, einen negativen Mythos
zu konstruieren, der gleichsam zur Rechtfertigung jeglicher Enthaltung diene,
weil das Maß eigener Schuld ja bereits übergroß sei - gleichsam das, was Hannah
Arendt (f 1975) für diesen Zusammenhang als felix culpa bezeichnete699. Eine
solche „Ent-übelung der Übel“700, der Umstand, dass aus Schlechtem doch auch
Gutes erwachsen kann, wird von Bruckner dabei jedoch gerade nicht im Sinne
der traditionellen christlichen Deutung auf die Welt bezogen.701 Im Fokus steht
für ihn die Befindlichkeit Europas. Er begründete seine Diagnose mit dem außer-
gewöhnlichen Umstand, der im Europa der Gegenwart anzutreffen sei,
„dass alle Eliten eines Kontinents mit solch ungeheurer Begeisterung ein kollektives
Schuldgefühl entwickeln, ja sogar die Fehler der anderen auf sich nehmen, sich freiwil-
gatoire), la mauvaise conscience troublee (l’enfer), et la mauvaise conscience paisible (le de-
sespoir). La suite de l’histoire de la medecine a donne raison au predicateur de Louis XIV.“
M. Lejoyeux, Les secrets, S. 135. Dabei griff Lejoyeux selbst nicht auf Jankelevitchs Werk
zurück, sondern zitierte dieses aus zweiter Hand, vermittelt über den Rekurs bei Bruckner,
vgl. hierzu in der Bibliographie.
695 Seine konkrete Referenz war die Ausgabe der moralphilosophischen Schriften Jankelevitchs
des Jahres 1998, vgl. Anm. 9 zum zweiten Kapitel.
696 Vgl. A. Kissler, Keine Toleranz den Intoleranten, bes. S. 152ff. mit ausdrücklichem Bezug auf
Bruckner; C. Strenger, Zivilisierte Verachtung, S. 15 und passim.
697 P. Bruckner, Der Schuldkomplex, S. 223.
698 Vgl. oben. S. 12, Anm. 5.
699 Zum Zusammenhang dieser Formulierung innerhalb des Umgangs mit Geschichte im Westen
Deutschlands in den 50er und 60er Jahren vgl. G. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 95-122, hier
bes. S. 99.
700 So O. Marquard, Felix Culpa?, S. 55.
701 Vgl. zu diesem Motiv in der christlichen Tradition von Spätantike und Mittelalter: S. Köbele,
Vom Lob der Hölle und G. Wieland, Felix culpa.
 
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