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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0389
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388

6. Rezeptionen und Wirkungen

lig für die entferntesten Katastrophen verantwortlich erklären und laut ausrufen: ich
habe Gewissensbisse, ich habe Gewissensbisse, wer hat ein Verbrechen für mich?“702
Was Bruckner hier beklagt, ist eine Tendenz zur ,Versachlichung‘ moralischer
Schuld. Aus dem Gefühl heraus, sich ein für alle Mal moralisch diskreditiert zu
haben, sei ein Bewusstsein erwachsen, künftighin keine Verantwortung mehr
übernehmen zu können. Europa befinde sich demzufolge in einem Zustand, den
man unter Bezug auf das Deutungsmuster der vier korrespondierenden Arten als
einen bezeichnen könne, der auf ein schlechtes und doch zugleich ruhiges Gewis-
sen hinweise. Schlecht sei es aufgrund der Vergangenheit, da die maßgeblichen
Entscheidungsträger meinen würden, der Kontinent habe übergroße Schuld auf
sich geladen; genau wegen dieses Übermaßes sei es aber zugleich auch ruhig. Eu-
ropa reklamiere gleichsam sämtliches Elend und alle Fehlentwicklungen der Ge-
genwart für sich und erkläre sie zu unmittel- oder auch mittelbaren Folgen seines
verwerflichen Handelns in der Vergangenheit.
Dieses Bewusstsein eigener Schuld artikuliere sich dabei weder in der bloßen
Anerkenntnis, dass das eigene Nichtstun falsch sei, noch in einem Bestreben,
gestaltend in globalpolitische Zusammenhänge einzugreifen. Stattdessen würden
die politischen Eliten alles vermeiden, was - in der Logik des Motivs - das ,euro-
päische Gewissen* auch nur beunruhigen könnte, von einer Besserung ganz zu
schweigen. Während die vier Gewissensarten für Jankelevitch noch illustrie-
rende Ergänzung waren, dienen sie Bruckner zur Charakterisierung gegen-
wärtiger politischer Mentalitäten.
Zu den im Laufe dieser Arbeit vorgestellten Rekursen auf das Konzept der
vier Gewissensarten kam mit Bruckners Bezug somit tatsächlich noch einmal
eine neue Facette der Deutung hinzu: eine strikt politische nämlich. Das, was
einmal in kongenialer Weise als Möglichkeit ersonnen worden war, allgemeine
Wertordnung und individuelle Befindlichkeit zu verknüpfen und dieser Ver-
knüpfung auf hohem Abstraktionsniveau und doch kompakt Ausdruck zu ver-
leihen, das wurde nun von Bruckner in einen Zusammenhang übertragen, der
sich von allen vorherigen, in denen das Motiv der vier Gewissensarten herange-
zogen wurde, fundamental unterschied.
Dabei scheint es unerheblich zu sein, ob die Metapher als solche trägt: ob also
Länder oder gar Kontinente ein Gewissen haben können. Denn in gewisser Weise
schließt Bruckners Rekurs genau wieder da an, wo das Motiv ursprünglich zu
verorten war, und von wo seine Karriere einen großen Bogen mit zahlreichen
Abzweigen in die Bereiche von Exegese, Seelsorge, Moralphilosophie und -theo-
logie genommen hatte: an der Frage nach der Positionierung des Fragenden in-
nerhalb der moralischen Ordnung der Zeit. Es diente und dient nun wieder der
Selbstvergewisserung und der Erkenntnis, wo man steht - und die gilt für den
Einzelnen, wie auch für die Gemeinschaft.

702 P. Bruckner, Der Schuldkomplex, S. 223.
 
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