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Einleitung

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wirklich sinnvoll nur dann, wenn das gesamte von einem
bestimmten Fundort stammende Material diskutiert werden
könnte, was im Rahmen einer lediglich auf unpublizierte Texte
fokussierten Arbeit wie der vorliegenden nicht möglich ist. Und
zweitens ist zu bedenken, daß die uns heute vorliegenden
Fundortangaben oftmals entweder zu unpräzise sind, um den
archäologischen Kontext eines beschrifteten Objekts exakt zu
bestimmen, oder aber ganz fehlen. Zwar erlauben es die
Ausgrabungsnummern (Ass. ...) vieler Texte aus Assur, deren
Fundortkoordinaten zu ermitteln, doch sind die entsprechenden
Nummern heute leider bei zahlreichen Texten nicht mehr zu
ermitteln. Die Ausgräber hatten sie häufiger nicht auf die
beschrifteten Objekte selbst geschrieben, sondern auf Zettel, die
sie diesen beigaben. Die Zettel aber, und damit auch die
Kenntnis der Fundorte, gingen im Verlauf des von so vielen
Hindernissen begleiteten Transports des Materials von Assur
nach Berlin verloren, so daß die genaue Herkunft vieler Texte,
auch solcher, die in diesem Buch veröffentlicht werden, heute
unbekannt ist. 45

Auch wenn die Texte aus den genannten Gmnden hier nicht
nach Fundkontexten angeordnet werden, soll das Potential einer
am Fundort orientierten Betrachtung historischer Texte im fol-
genden anhand zweier Beispiele zumindest kurz angedeutet
werden. Die Beispiele sind geeignet, sowohl den in Assur
gepflegten „privaten" wie auch den „öffentlichen" Umgang mit
Geschichte zu erhellen.

Historische Horizonte:

Die Texte in ihrem archäologischen Zusammenhang

Die bedeutendste und reichhaltigste private Bibliothek, die bei
den Grabungen in Assur entdeckt wurde, kam im Areal hD8I
östlich des Zentmms der Altstadt zutage. 46 Sie ist heute unter
dem von O. Pedersen etablierten Kürzel N4 bekannt. 47 Die zu
der Bibliothek gehörigen ca. 1200 Tafeln und Fragmente 48 fan-
den sich verstreut auf dem Boden eines Hauses, das Mitgliedern
der Baba-sumu-ibni-Familie gehörte. Die in den Kolophonen am
häufigsten genannten Besitzer bzw. Schreiber der Tafeln, Nabü-
bessunu, Kisir-Assur und Kisir-Nabü, die alle im 7. Jahrhundert
v. Chr. lebten, amtierten als Beschwörungspriester (äsipu) und
Heiler, und so verwundert es nicht, daß die meisten Texte ihrer
Bibliothek exorzistischen und medizinischen Inhalts sind.

Die Baba-sumu-ibnis stellten ihre Dienste nicht nur
Privatleuten zur Verfügung, sie hatten auch offizielle Funktionen
inne. Die wichtigsten Vertreter der Familie amtierten als
„Beschwörer des Assur-Tempels“ und waren in dieser
Eigenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit eng mit der hohen
Politik verbunden. Denn der Assur-Tempel war auch in der letz-

45 Mit Hilfe der während Andraes Ausgrabungen angefertigten Fotografien, die
es ermöglichen, Fundnummem beschrifteter Objekte sekundär zu ermitteln,
besteht die Chance, bislang unbekannte Fundorte in nicht wenigen Fällen
doch noch in Erfahrung zu bringen. S. M. Maul hat sich in den letzten Jahren
erfolgreich um entsprechende Identifizierungen bemüht, und einige der im
vorliegenden Band publizierten Texte konnten dank seiner Arbeit bestimm-
ten Nummem und Fundkoordinaten zugeordnet werden.

46 Zum archäologischen Befund siehe P. Miglus, Das Wohngebiet von Assur,
237-41. Die folgenden Ausführungen haben von Diskussionen profitiert, die
ich mit S. M. Maul führen konnte.

47 O. Pedersen, ALA 2, 41-76, mit ausführlicher Diskussion des Fundkomple-
xes.

48 S. M. Maul, der die Bibliothek im Rahmen der Heidelberger Assur-Forschun-
gen ausführlich untersucht, nennt in J. Marzahn - B. Salje (Hrsg.), Wiederer-
stehendes Assur, 178 die Zahl von 1198 Tafeln und Tafelfragmenten.

ten Phase des assyrischen Imperiums das religiöse Herz
Assyriens, und die assyrischen Könige verbrachten jedes Jahr
mehrere Monate in Assur, um am wichtigsten Festzyklus der
Stadt teilzunehmen 49 Man darf also annehmen, daß Kisir-Assur
und andere Mitglieder der Baba-sumu-ibni-Familie Zugang zu
den Regenten oder zumindest zu deren Hofstaat besaßen. In
diesen Zusammenhang gehören möglicherweise die (Suilla-)
Gebete aus N4, die für das Wohlergehen spezifischer Könige,
namentlich Sargons II., 50 Assurbanipals 51 und Sin-sarm-iskuns, 52
abgefaßt sind. Es ist wichtig, ihre Verbindung zum Königshaus
zu berücksichtigen, wenn man einen Blick auf die historischen
Texte der Bibliothek der Baba-sumu-ibnis wirft.

Unter diesen Texten finden sich nur wenige Königs-
inschriften: eine eigentümlicherweise in Amulettform gehaltene
neuassyrische Kopie einer Inschrift Assur-uballits I. (1363-1328
v. Chr.), 53 der berühmte, 714 verfaßte „Gottesbrief" Sargons II.,
dessen Autor der königliche Chefgelehrte Nabü-sallimsunu
war, 54 sowie ein von irakischen Ausgräbern zutage gefördertes
Fragment der Prismeninschiift eines unidentifizierten Königs. 55
Königliche Dekiete aus älterer Zeit, die in der Bibliothek in
Gestalt von Kopien zugänglich waren, betreffen von Tukultl-
Ninurta I. festgesetzte Opfergaben für Sarrat-nipha (in Kär-
Tukultl-Ninurta?) 56 sowie unter Salmanassar (I. oder III.?) eta-
blierte Bestimmungen bezüglich des Personals des Assur-
Tempels. 57 Außerdem fand sich ein kurzer Auszug aus einem
Loyalitätseid auf Sm-sarm-iskun, den letzten in Ninive residie-
renden assyrischen König. 58 Der einzige chronographische Text
aus N4 ist ein Fragment der Synchronistischen Königsliste, 59
jenes Traktats, das babylonische und assyrische Könige samt
ihren Chefgelehrten (ummänus) nennt; der letzte in dem fragli-
chen Exemplar aufgefühite Herrscher ist Assur-etel-iläni. Der
Skopus eines im vorliegenden Band unter Nr. 80 veröffentlich-
ten, in neuassyrischer Sprache verfaßten historischen Briefes(?)
aus N4 bleibt vorerst unklar.

In N4 kamen ferner mehrere „historisch-literarische“ Texte
zutage. Zu ihnen gehören Exemplare der sog. „Weidner-
Chronik", bei der es sich in Wirklichkeit um einen pseudepigra-
phischen altbabylonischen Königsbrief handelt, 60 der Marduk-
Prophetie, 61 der Sulgi-Prophetie, 62 der Sargon-Geographie 63

49 Siehe S. M. Maul, in: A. R. George -1. L. Finkel (Hrsg.), Fs. W. G. Lambert,
389-420.

50 Ass. 13955dz = A 174; siehe E. Ebeling, AGH, 96-99; O. Pedersen, ALA 2,
N4, no. 115.

51 KAR 55 (Ebeling, AGH, 52-55; ALA 2, N4, no. 125)undLKA31 (Weidner,
AfO 13, 210-13 und Tf. 13 sowie SAA 3, no. 11; ALA 2, N4, no. 548).

52 LKA 41; Ebeling, AGH, 24-27; ALA 2, N4, no. 126.

53 KAH 2, 27; A. K. Grayson, RIMA 1,73.1; ALA 2, no. 451. Über die Grün-
de, warum die Kopie Amulettform hat, kann man nur spekulieren. Vielleicht
stammt das Stück aus der Endphase des assyischen Staates, und man erhoffte
sich von ihm Schutz vor den anrückenden Medem und Babyloniem. Hierfür
könnte sprechen, daß auch der letzte, schon nicht mehr in Ninive residierende
assyrische Thronprätendent den Namen des offenbar als Patron assyrischer
Unabhängigkeit und Stärke geltenden Assur-uballit führte.

54 F. Thureau-Dangin, TCL 3; W. Mayer, MDOG 115 (1983), 65-132; ALA 2,
N4, no. 477.

55 Siehe B. Ismail, CRRAI 28, 199; ALA 2,42, n. 6.

56 E. Ebeling, PKTA, 32-34; SAA 12, no. 68; ALA 2, N4, no. 158.

57 Ebeling, PKTA 39f.; B. Menzel, AT, T18f.; ALA 2, N4, no. 330.

58 Weidner, AfO 13 (1939/40), pl. 14; SAA 2, no. 12; ALA 2, N4, no. 27.

59 KAV 182; A. K. Grayson, RIA 6, 124f.; ALA 2, N4, no. 358.

60 H. G. Güterbock, ZA 42 (1934), 47-57, pl. lf.; F. N. H. Al-Rawi, Iraq 52
(1990), 1-13; ALA 2, N4, no. 184.

61 A. K. Grayson - W. G. Lambert, JCS 18 (1964), 27-28; B. R. Foster, Before
the Muses 3, 388-91; ALA 2, N4, no. 436.

62 Weidner, AfO 13 (1939/40), 235-37; Foster, Before the Muses 3, 357-9; ALA
2, N4, no. 436.

63 KAV 92; W. Horowitz, Mesopotamian Cosmic Geography, 67-95; ALA 2,
N4,no. 117.
 
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